Transit
mehr weiß, ein Fremder, der plötzlich auftaucht, ein Unbekannter.« Sie berührte leicht meine Hand zum Dank. Doch heute erschien sie mir, ungeachtet unserer gemeinsamen Unternehmung, weit entfernter, weniger offen, weniger zugetan. Sie fuhr fort: »Wie lange, glaubst du, wird es dauern? Tage? Wochen? Wird man mich noch zur rechten Zeit abfertigen? Mein Freund will ja weg, rasch weg.«
Ich sagte: »Er wird noch ein wenig warten müssen. Aus dieser Passage, fürchte ich, wird diesmal nichts werden. Man wird sich weiter gedulden müssen. Man wird noch weiter zu dritt hier auskommen müssen.«
Ein Schatten flog über ihr Gesicht. »Zu dritt? Wer ist der dritte?«
Ich sagte: »Natürlich ich.«
Sie sah hinaus in die Menschen, die von dem hochgelegenen Bahnhof zum Boulevard d’Athènes hinunterstiegen, beladen mit Gepäckstücken. Bald drangen auch welche in unser Café ein mit Kindern, Handkoffern und Taschen. Marie sagte: »Ein Zug ist angekommen. Wie viele Menschen noch immer kommen aus allen Teilen des Landes. Aus Lagern, aus Spitälern, aus dem Krieg. Dasieh nur das kleine Mädchen mit dem verwickelten Kopf.«
Wir rückten zusammen, um Platz für die Neuankömmlinge zu machen, die Frau, wie finster war ihr Gesicht, zwei halbwüchsige Söhne und noch ein kleines, doch für den Korb, in dem es gezogen wurde, zu großes, weißbandagiertes Mädchen. Marie legte die Finger ineinander auf eine, wie es mir vorkam, verquere, verzweifelte Art. Doch ihre Stimme war ruhig: »Wie, wenn man mich dann zu dem Konsul ruft und mein Mann stünde doch dort! Man hätte ihn auch gerufen. Ich käme hin und er stünde dann dort?«
Ich sagte: »Laß. Er wird nicht dort stehen. Man braucht ihn nicht. Wir brauchen ihn nicht.«
Sie sagte: »Man braucht ihn nicht. Wir brauchen ihn nicht. Er könnte ja auch durch Zufall dastehn. Uns hat ja auch der Zufall zusammengeführt, dich und mich. Ich sah ihn ja auch das erstemal nur durch Zufall, und ihn, den anderen, den Arzt, das erstemal auch nur durch Zufall.«
Ich wußte nicht, was ihr an dieser Zufallsfeststellung gelegen war. Sie mißfiel mir. Auch flog es mir durch den Kopf, daß ich einmal über etwas Ähnliches nachgedacht hatte, was sie da laut vor sich hinsagte, aber aufgehört hatte, darüber nachzudenken, weil es mir mißfiel. Ich sagte: »Weder zufällig noch durch den Konsul bestellt. Diese Furcht laß.« Ich nahm ihre immer noch ineinander geschlungener Hände, die erst in meinen locker wurden. Mich störte jetzt nur noch der Blick jener neu angekommenen Frau, die wie alle Menschen, deren Leben von Grund auf zerstört wurde, jede Regung der Liebe mit Argwohn beobachtete.
VIII
Ich traf jetzt Marie täglich. Wir waren manchmal verabredet. Wir trafen uns manchmal durch Zufall. Bisweilen erklärte sie selbst, sie hätte mich in den Cafés gesucht. Siesuchte jetzt mich, nicht den Toten. Ich ließ meine Hand auf dem Tisch, weil ich wußte, daß ihre Hand in die meine griff. Sie setzte sich dicht neben mich. Ich hatte damals das Gefühl, das Blatt wende sich zu meinen Gunsten.
Den Kopf an meine Schulter gelehnt, sah sie stumm den Menschen zu, die durch eine Tür in das Café hineingedreht wurden wie in eine Mühle, in der man sie täglich ein dutzendmal durchmahlte an Leib und Seele. Ich kannte viele, sie kannte andere, und manchmal erzählten wir uns, was wir wußten von ihren Transitärleben. Marie sagte: »Wir gehören auch dazu.« Ich wollte erwidern, ich nicht, doch damals dachte ich schon bisweilen, ich könnte auch mit ihr abfahren. Mit ihr bleiben? Mit ihr abfahren? Das waren die beiden Gedanken, mit denen ich spielte. Marie sagte: »Der Tag ist lang. Der einzelne Tag ist lang, wenn man nichts tut als warten. Doch all diese langsamen Tage sind plötzlich ein Haufen Zeit. Ich glaube jetzt selbst nicht mehr, daß mein Mann in der Stadt ist. Es hat keinen Zweck, ihn zu suchen. Man läuft nur aneinander vorbei. Er wohnt vielleicht draußen am Meer in einem der Dörfer. Er kommt vielleicht nur bisweilen herein. Ich warte, bis er mich selbst findet.« – Ich erwiderte: »Du wirst dein Visum auch ohne ihn bekommen. Ich habe die beste Hoffnung.« – »Und wenn? Und dann?« – »Dann wirst du auf dein Visum dein Transit bekommen, und auf dein Transit dein Visa de sortie. So ähnlich läuft es doch.« – Sie schwieg. Ihre Hand in meiner, den Kopf an meine Schulter gelehnt, mit eben noch heiterem, jetzt schon traurig finsterem Ausdruck verfolgte sie alle Gesichter, die an uns
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