Transit
an. Ich packte sie fester und schüttelte sie und zwang sie zurück auf den Stuhl und sagte: »Hör auf mit dem Unsinn! Nimm dich zusammen! Der Mensch da ist ein Franzose. Sieh doch hin! Er trägt das Band der Ehrenlegion.« Der Mann blieb stehen, der Ausdruck seines Gesichts veränderte sich erstaunlich flugs, er lächelte munter.
Das Lächeln belehrte Marie noch besser als das rote Bändchen. Sie sagte: »Wir wollen weg von hier.« Wir brachen rasch auf. Wir liefen und liefen, wir liefen durch ein Gewirr von Gassen hinter dem Alten Hafen, doch diesmal zu zweit, doch diesmal mein Arm über ihren Schultern. Ich fragte: »Hat er ihm wirklich ähnlich gesehen?« – »Zuerst ein wenig.« – Wir liefen und liefen, als sei ein Fluch in uns gefahren, der uns nicht rasten ließ, doch eher war dieser Fluch in Marie gefahren, und ich ließ sie nicht allein. Wir liefen an einem Haus vorbei in einer engen hohen Gasse, das eine mit schwarzen, silberbronzenen Tüchern verbrämte Tür hatte, weil heute der Tod hier eingekehrt war. Doch in der Nacht glich diese verbrämte Tür des schäbigen Hauses einem düsteren Palasttor. Wir liefen in die Gasse hinein, die auf die Treppe mündet, die hoch zum Meer steigt. Wir stiegen hinauf, ich ließ Marie nicht los. Mond und Sterne standen am Himmel. Ihre Augen waren voll Licht. Sie sah auf das Meer hinaus. Auf ihrem Gesicht war der Widerschein eines Gedankens, den sie mir nie anvertraut, vielleicht überhaupt nie ausgesprochen hatte. Und eine mir unzugängliche, mir verhaßte Übereinstimmung zwischen diesem Gedanken und dem mir in diesem Augenblick gleichfalls verhaßten, gleichfalls unzugänglichen Meer. Sie wandte sich ab, wir stiegen schweigend hinunter. Wir liefen in den Gassen herum und landeten schließlich hier in der Pizzaria. Wie war ich erleichtert beim Anblick des offenen Feuers! Wie färbte es ihr Gesicht!
IX
Wir hatten schon ziemlich viel Rosé getrunken, als der Arzt eintrat. Marie hatte verschwiegen, daß sie mit ihm hier in der Pizzaria verabredet war. Ich wollte ausrücken, aber beide baten mich, noch zu bleiben, mit einer Dringlichkeit, aus der ich fühlte, daß beide froh waren, nicht allein zu bleiben. Der Arzt fragte mich wie jeden Tag: »Wie steht es mit Mariens Visum? Glauben Sie, daß es klappt?« Ich erwiderte wie jeden Tag: »Es wird schon klappen«, ich fügte hinzu: »Wenn Sie mich nur gewähren lassen. Jedes Gerede kann die Suppe versalzen.« – »Der ›Paul le Merle‹ wird sicher noch diesen Monat abfahren. Ich komme gerade von der Transports Maritimes.« – »Hör mal, mein Lieber«, sagte Marie plötzlich ganz aufgeräumt mit heller klarer Stimme, sie hatte vielleicht drei Glas Rosé getrunken, »wenn du ganz genau wüßtest, daß mein Visum nie käme, würdest du dann mit dem ›Paul le Merle‹ abfahren?«
»Ja, mein Lieb«, erwiderte er, er hatte sein erstes Glas noch nicht angerührt, »wenn ich das wüßte, würde ich diesmal abfahren.« – »Mich allein lassen?« – »Ja, Marie.« – »Obwohl du mir gesagt hast«, fragte Marie in etwas eigensinnigem, sonst ganz heiterem Ton, »daß ich dein Glück bin, deine große Liebe?« – »Ich hab dir auch immer gesagt, daß es etwas auf Erden gibt, was mir noch mehr wert scheint als mein Glück, als meine große Liebe.«
Jetzt geriet ich in Wut. Ich rief: »Trinken Sie mal gefälligst Ihr Glas aus! Trinken Sie mal zuerst eine Zeitlang, damit Sie uns einholen. Daß Sie imstand sind, etwas Vernünftiges zu erzählen!« – »Nein! Im Gegenteil!« rief Marie immer im selben heiter eigensinnigen Ton, »trink noch nichts! Antworte mir zuerst genau, wieviel Schiffe würdest du mir zulieb überspringen?« – »Höchstens noch den ›Paul le Merle‹. Aber auch darauf verlaß dich nicht. Auch das werde ich mir noch einmal sehr gut überlegen.«– »Haben Sie alles gehört?« wandte sich Marie an mich, »wenn Sie mir wirklich helfen wollen, dann helfen Sie schnell.« – »Hören Sie?« sagte der Arzt. »Mariens Abfahrt ist jetzt wirklich eine beschlossene Sache. Helfen Sie, lieber Freund, jeden Tag können die Deutschen die Rhonemündung besetzen, dann ist die Falle zu.« – Ich rief: »Alles Unsinn! Das hat mit Ihrer Abreise doch nichts zu tun. Das heißt, es kommt darauf an, was für Ihre Abfahrt den Ausschlag gibt. Es wird sich erweisen, wie wir bereits einmal feststellten, durch die Abreise selbst, was den Ausschlag gegeben hat, Furcht, Liebe, Berufstreue. Alles erweist sich durch den Entschluß, den
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