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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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Staaten? Für einen Konsul der Vereinigten Staaten bedeutet vielleicht, was sich vor ein paar Monaten zutrug: vor kurzem.«
    Ich packte sie fest ums Handgelenk, ich rief: »Du kannst ihn gar nicht einholen. Er ist dir ja längst verlorengegangen. Du hast ihn in diesem Land nicht mehr gefunden, nicht einmal in dieser Stadt. Du mußt mir glauben, er ist zu weit fort, um ihn jemals zu finden. Er ist unerreichbar geworden.«
    In ihren sanften grauen Augen erglänzte ein neues, fast unerträgliches Licht. »Ich weiß ja, wohin er ist. Ich werde ihn diesmal einholen. Diesmal wird mich nichts abhalten. Wenn mir der Konsul das Transit nicht ausstellt, so werde ich eben zu Fuß aus dem Land kommenohne Transit. Ich werde nach Perpignan gehen und dort, wie es andere vor mir getan haben, einen Führer dingen, der mich durch die Berge bringt. Ich werde mir einen Schiffer dingen, der mir einen Winkel gibt in einem Schiff, das nach Afrika fährt.« – »Du wirst diesen Unsinn lassen«, rief ich. »Man wird dich einfangen und in ein Lager sperren, so daß du erst recht nicht fort kannst. Bedenke doch, wie es zugeht. Sie rufen euch an, sie rufen dreimal, dann schießen sie.« Sie lachte und sagte: »Du willst mich erschrecken. Du solltest mir lieber helfen, wie du mir früher geholfen hast. Da hast du kein Wenn und Aber gebraucht, du hast nur geholfen.« Ich ließ ihre Hand los, ich sagte: »Und wenn du recht hast? Wenn sich die Konsuln irren? Wenn es den Mann nicht mehr gibt? Was dann?« Das Grau ihrer Augen wurde stumpf, sie sagte: »Wie sollten sich wohl die Konsuln irren? Kein Pünktlein entgeht ihnen in deinem Paß, kein Strichlein in deinem Dossier. Sie würden ja eher, wenn ein einziger Buchstabe fehlt, hundert Richtige hier zurückbehalten, als einen Falschen ziehen lassen. Mir kam auch dieser sinnlose Gedanke nur, weil man mich zwingt, hier stillzusitzen. Sobald ich suche, weiß ich, es gibt den Mann. Solange ich suche, weiß ich, ich kann ihn noch finden.«
    Auf einmal veränderte sich ihr Gesicht, sie sagte: »Da draußen geht mein Freund. Ich will ihn rufen. Verstehst du, er ist ein sehr guter Mensch.«
    Ich sagte: »Unnötig, ihn zu loben. Ich kenne seine Vorzüge.« Sie lief an die Tür und rief auf die Straße. Er kam herein und begrüßte uns in seiner gewöhnlichen, ruhigen Art. »Setz dich zu uns«, sagte Marie, »wir brauchen wieder einmal eine Transitberatung. Meine zwei lieben Freunde.«
    Er nahm ihre Hand, sah sie aufmerksam an und fragte: »Du hast ja kalt. Warum bist du bleich?« Er rieb ihre Hände genau wie ich selbst vor ein paar Minuten. Marie sah mich gerade an mit ihren klaren, zu klaren Augen. Sie schienen zu sagen: Du siehst, daß er nun einmal meineHände nimmt. Das hat nichts auf sich. Du siehst, daß wir nun einmal zusammengeraten sind. Es war ein Zufall. – Ich dachte: Es ist vielleicht wirklich gut. Und sicher glaubt er, weil er nun einmal ein Arzt ist, an Heilung. Ich aber, ich glaube nicht daran. Wenigstens nicht durch diesen Arzt. Für mich war kein Zweifel, nach wessen Hand sie greifen müsse, sobald die Wahrheit herauskam. Ich wandte mich ausschließlich an den Toten: Wir werden sie ihm bald wegnehmen. Sei ruhig, er wird sie nicht lange behalten.
    Ich sagte: »Gib mir deine Konvokation. Ich will versuchen, ob ich mit diesem Wisch etwas anfangen kann.« Sie kramte ihr Zettelchen hervor.
    Als wir aufstanden, nahm mich der Arzt beiseite. Er sagte: »Sie haben jetzt selbst eingesehen, daß es gut für Marie ist, abzufahren. Ich habe mich nicht eingemischt. Das hätte nur alles verzögert.« Er fügte leicht hinzu, erst später erschienen mir seine Worte gewichtig: »Sie wird endlich Ruhe finden. Ich werde sie sicher hinüberbringen.«
    Ich folgte ihnen nicht. Ich blieb an meinem Tisch sitzen und sah ihnen nach, als sie, ohne sich an den Händen zu fassen, in bedrückender Eintracht den Quai des Belges hinuntergingen.

Neuntes Kapitel
I
    Den Rest des Tages lief ich, Mariens Konvokation in der Tasche, die Cannebière hinauf und hinunter, auf der Suche nach einem Helfershelfer. Ich hatte genug gelernt. Marie würde sich jetzt auf keine Verschiebung mehr einlassen, auf keinen Zufall und keinen Trick. Erst jetzt verstand ich die Botschaft, die mich in Paris an Stelle des Toten erreicht hatte. »Verein dich mit mir durch welche Mittel immer, damit wir zusammen das Land verlassen!« Ihr neuer Freund war im Irrtum gewesen, sie hatte in Wahrheit nie gezögert. Wir hatten gezögert, der Arzt und ich, und

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