Transit
in seine unermeßliche Leere hinein immer neue Menschen ziehen und anlocken und nie, nie ein Opfer finden, über dem sich sein eigener Abgrund schließen würde. Wußte er etwas von sich selbst? Ich glaube, nein. Da hatte ihm die Natur einen Streich gespielt, die sonst sein Angesicht und sein Gehirn so gut ausgestattet hatte. In dieser Beziehung glich er einer Amöbe, einer Alge. In dieser Beziehung war ihm sogar mein kleiner schäbiger Portugiese weit überlegen.
Ich sagte: »Ich werde deine Grüße noch heute ausrichten. Du könntest allerdings deine Ergebenheit auch noch anders bezeugen. Die junge Frau ist jetzt sehr schlecht dran.« Er sagte ganz aufmerksam: »Woran fehlt es denn?« – »Es fehlt an einem Transit. Sie hat zwar bereits ihre Vorladung zu dem amerikanischen Konsul. Das Datum klappt aber nicht. Man müßte die Vorladung umdatieren lassen. Das Schiff geht früher.« Er sagte lebhaft: »Von Lissabon ab? Am 12.? Die ›Nyassa‹? Ich bin bereits auch vorgebucht. Ich habe mich gerade entschlossen, meine Zelte abzubrechen.« Ich log: »Ja eben, mit der ›Nyassa‹.« Ich sah ihn wohl eine Spur zu genau an, sein Gesicht leerte sich. Ich fügte hinzu: »Falls das Transit noch rechtzeitig ausgestellt wird.« – »Das läßt sich schon machen«, sagte er, »wir werden die reizendste Reisegesellschaft abgeben. Und wenn ein Sturm kommt und man sucht den Schuldigen, wird man Weidel über Bord schmeißen.« – »Du wirst ihn mit Meidler verwechseln«, sagte Paulchen. »Beruhige dich, ich werde ihn nicht verwechseln. Ich werde den richtigen schmeißen.« Er fuhr strahlend fort: »Ich habe zwar schon einmal ganz umsonst versucht, Weidel so gründlich wie möglich im Stich zu lassen. Auch das war daneben geglückt. Wir kamen beide hier an. Und Weidel wird sicher auch diesmal von einem Walfisch verschluckt werden und mit uns allen gleichzeitig ankommen.« – »Ich glaube sogar«, sagte ich, »daß er noch vor uns ankommen wird. Zunächst aber braucht seine Frau ein Transit. Du bist der Freund des Konsuls.« – »Gerade weil ich sein Freund bin, kann ich ihn nicht mit Anliegen dieser Art beschweren.« Ich rief: »Du bist doch klug. Du gefällst Männern und Frauen. Wenn einer einen Rat weiß, bist du es. Gibt es nichts und niemand, der einen Konsul bewegen kann, ein Datum durchzustreichen?«
Er lehnte sich zurück. Er schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Es gibt einen einzigen Mann in Marseille, der Einfluß auf den Konsul hat. Er ist zufällig diesen Monat hier. Wahrscheinlich wird er auch mit der ›Nyassa‹fahren. Er ist an der Spitze einer Kommission zur Untersuchung der Kriegsfolgen auf die Zivilbevölkerung. Die Kommission bringt Schiffsladungen von Essen für die Kinder Frankreichs. Ein ausgezeichneter Mensch. Er ist ein Freund des Konsuls. Zugleich eine Art von geistlichem Berater. Der Konsul wird auf ihn hören. Sein Wort hat für den Konsul ethisches Gewicht.« – »Ethisches Gewicht?« – »Gewiß«, sagte Achselroth, in vollem, echtem Ernst, »ethisches Gewicht. Er würde den Konsul überzeugen, wenn ihm die Sache selbst einleuchtet. Das allerdings muß sie. Er tut nie etwas gegen sein Gewissen.« – »Nun, hoffen wir«, sagte ich, »daß sein Gewissen ihm eingibt, das Transit um ein paar Tage vordatieren zu lassen. Und hoffen wir auch, daß der Konsul auf den Mann Gottes hören wird. Es gibt in der Bibel Fälle –« Achselroth sagte kalt: »Wir haben es hier mit dem amerikanischen Konsul zu tun.« Ich fürchtete, er könne sein Hilfsangebot zurückziehen, und sagte rasch: »Verzeih! Ich kenn mich nicht aus. Du weißt alles am besten.« Er zog einen Füllfederhalter aus der Tasche, der meine Aufmerksamkeit fesselte. Man konnte darin in gelblichem Glas die Tinte steigen sehen. Er schrieb zwei Zettel, steckte sie in Umschläge und sagte: »Gib bitte beide noch heute der jungen Frau! Sie soll mich auf dem laufenden halten. Am besten morgen zwischen acht und neun. Ich bin ein Frühaufsteher.« Ich riß, sobald ich allein war, Mariens Umschlag auf. Sie durfte und sollte nichts wissen, ich würde alles allein machen. Achselroths Handschrift war schlicht. Auch der Inhalt war schlicht: »Ich erfahre Ihre Sorgen. Ich denke nach, was ich für Sie tun kann. Professor Whitaker wird Sie anhören, wenn Sie ihm meinen Brief vorausschicken. Benachrichtigen Sie mich sofort.«
Diesen Brief zerriß ich. Auf dem andern Umschlag stand die Adresse Professor Whitakers, Hotel Splendide. Ich ging sofort
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