Transit
dicht vor Paris, ich suchte meinen Freund, ich meine den ersten, den richtigen, aber er war nicht mehr in seinem Quartier, das Haus, in dem er gewohnt hatte, war versperrt, niemand wußte, wo er geblieben war, aus Notre-Dame waren die Glasfenster herausgenommen, alle Menschen brachen auf, ich sah eine Frau, die ein totes Kind auf einem Karren aus Paris hinausfuhr. Ich war allein, ich lief in den Straßen herum, die Wagen entlang. Da rief mich plötzlich der andere an auf dem Boulevard Sébastopol. Mir war es wie ein Wunder. Mir war es wie ein Fingerzeig Gottes. Es war aber gar kein Wunder. Es war aber gar kein Fingerzeig. Es war ein Zufall, der sich so anstellte, als ob er das Schicksal selbst sei. Ich stellte mich auch danach ein. Ich kletterte in das Auto hinein. Er sagte: ›Sei ruhig, ich werde dich über die Loire bringen.‹ Damit fing es an. Ich mußte über die Loire, und weil ich damals über die Loire mußte, muß ich jetzt über das Meer. Ich hätte bleiben sollen und weitersuchen. Das war meine Schuld. Denn kannst du mir sagen, warum ich durchaus über die Loire gemußt habe? Ach, diese Fahrt! Die Flieger kamen auf uns herunter, wir krochen zwischen die Räder. Wir lasenein Weib von der Straße auf, ihr Fuß war zerschossen, wir warfen unser Gepäck hinaus, wir nahmen die Frau, es war zu spät, sie verblutete. Wir warfen sie wieder hinaus. Und schließlich kamen wir an die Loire, die erste Loirebrücke war gesprengt, die Autos und Wagen hingen am Ufer und in den Stücken der Brücke, die Menschen hingen dazwischen und schrien, wir hielten uns immer dicht umschlungen, er und ich. Und ich, ich versprach, ihm weiter zu folgen bis ans Ende der Welt. Das Ende erschien mir nah, die Strecke kurz, das Versprechen leicht. Wir kamen aber über die Loire, wir kamen hier an. Da war auf einmal der Zufall ein Schicksalsschlag, ich war allein mit dem Mann, der mich gefunden hatte, statt mit dem Mann, den ich gesucht hatte, was ein Schatten gewesen war, hatte Fleisch und Blut, was für kurz hätte sein sollen, hatte ewigen Bestand, was für ewig gedacht war –«
Ich rief: »Hör auf mit dem Unsinn! Du weißt, daß es Unsinn ist. Was ein Zufall ist, wird nie Schicksal, was ein Schatten ist, wird nie Fleisch und Blut, was wirklich Bestand hat, wird nie ein Schatten. Du lügst auch und hast mir selbst alles einmal ganz anders erzählt. Du hast auch damals deinem Mann einen Brief geschrieben –« Sie rief: »Ich? Einen Brief? Wieso weißt du etwas von diesem Brief? Wie kannst du denn etwas von diesem Brief wissen? Ja, ich schrieb einen Brief. Doch dieser Brief kann nie angekommen sein. Nichts ist mehr angekommen, in jenen Tagen ist alles verlorengegangen oder verbrannt. Ein solcher Brief kann nie angekommen sein, solch ein furchtbarer Brief. Ich schrieb ihn auf der Flucht, ich schrieb ihn gleich hinter Paris, auf dem Knie dieses anderen Mannes. Doch damals kam nichts mehr an. Ich schrieb aber auch noch andere Briefe, gleich als wir hier ankamen. Und diese Briefe sind angekommen. Sie müssen wohl angekommen sein, mein Mann muß hergefahren sein. Sie sagen ja auf den Konsulaten, er sei dagewesen. Ich habe freilich geglaubt, wenn er kommt, wenn er wirklichda ist, ob ich treu bin oder untreu, schön oder häßlich, er muß mich suchen und finden. Nur er, kein anderer, er würde ›Marie, Marie‹ rufen, wenn er mich sieht, und wenn ich auch plötzlich alt wäre oder entstellt oder unkenntlich verändert. Es ist unmöglich, sagt mir mein Herz, daß er hier sein kann, ohne mich zu rufen. Die Konsuln aber sagen, es sei so. Mein Herz aber sagt mir jetzt, er muß tot sein. Er würde mich holen, wenn er lebte. Sie irren sich, die Konsuln. Sie haben einem Toten das Visum ausgestellt und einem Toten das Transit.«
Ihre Hand zwischen meinen Händen war jetzt so kalt wie Eis. Ich fing sie zu reiben an, wie man im Winter die Hände von Kindern reibt. Doch meine eigenen Hände waren zu kalt, um ihre zu wärmen. Ich mußte jetzt auf der Stelle alles erzählen. Ich suchte nach Worten. Da sagte sie ganz ruhig: »Vielleicht kam er vor uns hier an. Vielleicht ist er schon abgereist. Ja, das wird die Lösung sein, er ist schon abgefahren. Die Worte ›vor kurz e m ‹ bedeuten doch in dem Mund eines Konsuls etwas ganz anderes, als wenn wir sie aussprechen. Für einen Konsul ist die Zeit etwas anderes. Für einen Konsul bedeuten ein paar Monate gar nichts. Ich habe nicht zu fragen gewagt. Was ist denn die Zeit für einen Konsul der Vereinigten
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