Transit
die Hände in die Taschen. Sie nahm mich beim Daumen und zog mich quer über die Straße in das große häßliche Café Ecke de la République-Alter Hafen. An einem Fenster des Cafés saß die dicke gefräßige Frau, die ihr Reisegeld immer noch nicht verschlungen hatte. Der Tscheche, der seit meiner Ankunft in englische Dienste gehen wollte, durchquerte mit finster entschlossener Miene das Café und stellte sich an die Theke. Ich sah auch hinter der Glastür den Burschen vorbeigehen, dem man seiner Vorstrafen halber das amerikanische Transit verweigert hatte.
All diese gleichgültigen Begegnungen, all diese sinnlosen Wiedersehen bedrückten mich in ihrer sturen Unvermeidlichkeit. Marie hatte den Kopf in die Hand gestützt. Mit der anderen Hand hielt sie noch immer meinen Daumen. Ich hätte sie überall treffen mögen, treffen müssen. Ich gab es auf, mich dagegen zu sperren, ich fragte: »Was fehlt dir, Marie, was kann ich für dich tun?«
Sie lehnte den Kopf an meine Schulter. In ihrem Blick lag etwas, was ich mir noch nie gewünscht, was ich noch nie empfangen hatte: unendliches Vertrauen. Ich nahm ihre Hand zwischen meine beiden Hände. Ein Vorgefühl sagte mir, daß ich gleich etwas zu hören bekäme, was neu und erstaunlich für mich sei. Doch mein Vorgefühl täuschte. Sie sagte: »Du weißt noch nicht, daß ich jetzt wirklich mein Visum habe. Die Mexikaner haben mir wirklich das Visum ausgehändigt. Jetzt fehlt mir nur noch das Transit.« – »Da brauchst du meinen Rat nicht. Geh hinauf zum amerikanischen Konsul! Er wird es dirausstellen.« – »Ich war schon beim Konsul. Ja, er wird es mir ausstellen. Hier ist meine Vorladung. Ich werde mein Transit am 12. des nächsten Monats bekommen, doch das Schiff fährt wahrscheinlich am 8. Du glaubst doch nicht etwa, daß mein Freund, der das Visum nicht abgewartet hat, jetzt das Transit abwarten wird?« – »Ist dir wirklich gar nichts beim Konsul eingefallen«, fragte ich, »um die Vorladung ein paar Tage voraus zu legen? Keine Bitte, kein Vernunftgrund, keine Lüge? Hat ihn dein bloßer Anblick nicht gerührt?« – »Du sollst dich jetzt nicht mehr über mich lustig machen. Mein Anblick hat ihn nicht gerührt. Mir ist auch nichts eingefallen. Der Konsul hat aus meinen Akten herausgelesen, daß mir das Visum erteilt wurde als der Begleiterin eines Schriftstellers namens Weidel. Er fragte mich, wenn es mir so eile, warum ich nicht gleich gekommen sei, denn Weidel sei doch vor kurzem selbst oben gewesen. Ich sagte, daß ich mein eigenes Visum erst jetzt erhalten hätte. Ich war noch froh, daß ich wenigstens diese Worte herausbrachte. Ich war zu Tode erschrocken. Er war noch vor kurzem hier. Vor kurzem!« – Da fuhr es mir plötzlich heraus: »Er mag inzwischen abgereist sein.« – »Mit welchem Schiff denn? Da er noch vor kurzem beim Konsul war? Er kann mit keinem Gespensterschiff gefahren sein. Oder über Spanien? Er war noch vor kurzem hier. Er war noch hier, und auch ich war hier. Ich aber habe die letzten Wochen zuweilen geglaubt, daß er tot ist.« – Ich rief: »Marie! Was sagst du da? Ich habe dir selbst einmal diesen Gedanken nahegelegt, da hast du gelacht und böse Worte gebraucht.« – »Ja, hab ich damals gelacht? Wie viele Jahre sind wohl vergangen, seit ich gelacht habe? Ich bin wohl jung, sieh mal in den Spiegel dort drüben!«
Ich drehte mich um. Ich fuhr vor Bestürzung zusammen, als ich uns beide erblickte, an einem Tisch, Hand in Hand. Sie fuhr fort: »Ich sehe selbst, daß ich jung bin. Wie kann es nur möglich sein, daß ich noch jung bin, ganz jung? Wie kann es nur möglich sein, daß mein Haarnoch braun ist? Denn hundert Jahre sind es gewiß, seit es hieß, die Deutschen stehen vor Paris. Du hast mich nie danach gefragt. In dieser Stadt fragt man die Menschen nur: Wohin? Nie: Woher?
Mein Liebster, ich meine natürlich jetzt meinen ersten Freund, ich meine den anderen, den ersten, den richtigen, brachte mich im Krieg in ein Haus aufs Land, damit ich nicht in ein Lager verschleppt würde. Warum er mich nicht bei sich behalten hat? Ich habe dir schon erzählt, daß er krank und schlecht war, daß er meistens allein sein wollte. Da kam jener andere Mann, der jetzt mein Freund ist, in das Haus, in dem ich lebte. Er kam als Arzt und pflegte ein Kind und war gut zu allen. Er kam oft, ich war allein, wir gefielen einander. Dann kamen die Deutschen immer näher. Ich fürchtete mich, ich fuhr nach Paris hinein, die Deutschen standen plötzlich
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