Transsibirien Express
Himmelsmacht!« sagte er halblaut. »Werner Antonowitsch, Sie haben die Seele eines Russen, aber die Dummheit aller Deutschen. Machen wir das Licht aus. Das Buch ist langweilig, und – Sie immer anzusehen, macht ebenfalls müde!«
Dann war nur noch eine fahle Dunkelheit um sie, auf dem Gang brannte die Notbeleuchtung und verwischte mit ihrem trüben Licht alle Konturen.
Forster wartete, bis Karsanow, wie jede Nacht, laut zu schnarchen begann, beugte sich dann noch einmal über Milda und küßte ihre zusammengepreßten Lippen.
»Ich hole dich doch hier heraus!« sagte er leise und zog die Decke bis zu ihrem Kinn herauf. »Ich schwöre es dir – ich habe noch nie ein Mädchen so geliebt wie dich!«
Mitten in der Nacht schreckten sie alle auf.
Mulanow, der Schaffner, riß die Abteiltür auf und stürzte in den Raum.
Forster knipste das Licht an, Karsanow zuckte hoch und stieß mit dem Kopf gegen die Waggonwand. Milda kroch in sich zusammen wie ein getretener Wurm.
Mulanow war bleich und so schwach auf den Beinen, daß er sich am Türrahmen festklammern mußte.
»Wachen Sie auf, Genossen!« stammelte er. »Beim heiligen Stephanus … wachen Sie auf! Etwas Furchtbares ist passiert! Man hat Klaschka Iwanowna ermordet …«
VII
Sprachlosigkeit ist ein Ausdruck, den man gern verwendet, wenn man zeigen will, daß ein Mensch in einer außergewöhnlichen Situation zunächst einmal tief Atem holen muß, um mit der Wirklichkeit fertig zu werden. Es sind jene Augenblicke im menschlichen Leben, wo das Geschehen schneller ist als das Hirn denken kann – oder in denen das Schicksal den Menschen einfach überrollt.
Man hat dann Mühe, sich in der Gegenwart zurechtzufinden – und genau das versuchte Pal Viktorowitsch Karsanow in diesen Minuten.
Mulanows Schreckensruf hatte ihn aufgescheucht, er war aus dem tiefsten Schlaf und einem angenehmen Traum herausgerissen worden, hatte sich beim Hochzucken den Kopf angeschlagen und spürte nun die Nackenwunde wieder stärker, die ihm der heruntergefallene Koffer beigebracht hatte.
Vor dem Schlafen hatte Forster sie Karsanow noch einmal verbunden und Heilsalbe darüber gestrichen. Es war sowjetische Salbe, aus dem Sanitätskasten des Transsibirien-Expreß, die schon ein wenig gelb geworden war, anscheinend vom langen Liegen; und es war zweifelhaft, ob die antibakterielle Wirkung des Präparats noch voll wirksam war.
Milda Tichonowna hatte sich mit einem spitzen Schrei an Werner Forster geklammert.
Auch er war von der Nachricht so betroffen, daß er nichts anderes tun konnte, als Mildas Rücken zu streicheln. Einen Beruhigungseffekt hatte das kaum.
Mulanow sank auf das Bett von Forster, wischte sich über das Gesicht und zitterte heftig.
»Noch weiß es keiner –«, stotterte er. »Nur der Genosse Iwan Iwanowitsch Lakterian. Er will auf den Abort, sein gutes Recht, Genossen, macht die Tür auf, will seine Hose herunterlassen … und wen sieht er da in der Ecke liegen? Ein Häufchen aus Fleisch und Blut: Klaschka! Ihm ist die Lust zu seinem Geschäft vergangen, sag ich euch! Die Hose hoch und zu mir. Weiß wie eine gekalkte Wand steht er da, bebt am ganzen Körper und stammelt: ›Genosse Schaffner, im Abort fünf liegt Klaschka. Ich glaube, es ist ihr etwas passiert. Sehen Sie doch mal nach!‹ Ich sofort hin … und da liegt sie tatsächlich! Blutüberströmt, mit offenen starren Augen. Genossen, mir ist der Schrecken in den Darm geschlagen. Ich mußte mich erst auf den Abort setzen …«
»Ungeheuerlich!«
Karsanow fand seine Sprache wieder. Er saß im Bett in seinem gestreiften Schlafanzug, und bemühte sich, ganz Amtsperson zu sein.
»Hockt sich der Kerl neben die Leiche hin …! Haben Sie wenigstens nach Irkutsk funken lassen?«
»Noch nicht, Genosse Oberst! Ich bin sofort hierhergekommen. Diese Panik im Zug, wenn man erführe, daß ein Mörder herumschleicht! Erst die Diebstähle, dann bringt man sogar harmlose Huren um! In welcher Zeit leben wir! Aber ich habe es schon bei der Abfahrt gesagt, ich habe es im Gefühl gehabt: dieser Zug ist anders als andere Züge! In diesem Zug bekommen wir Ärger! Mein Gefühl …«
»Jammern Sie nicht, Sie zerrissenes Hemd!« brüllte Karsanow und schob die Beine auf den Boden.
Es zeigte sich, daß er keine schönen Beine hatte: Krampfadern und dünne Waden wurden sichtbar. Am Strand von Sotschi blickten ihm die hübschen Mädchen bestimmt nicht nach. Vielleicht war er deshalb gallenkrank und so unleidlich …
»Haben Sie sich
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