Transsibirien Express
kameradschaftlich, nie ohne Arg, immer ein freundlicher Mensch, ein Sonnenschein … wenn man so sagen darf … Und wie sie jetzt daliegt! Aufgeschlitzt! Konnte so etwas nicht dem widerlichen Karsanow passieren? Das Schicksal ist ungerecht …
»Ich habe eine Idee«, sagte Karsanow mittlerweile zu Forster. »Der Mörder ist im Zug, er kann ja nicht weg. Er würde sich bei diesem Tempo den Hals brechen, wenn er während der Fahrt abspränge. Er liegt also friedlich in einem Abteil auf seinem Bett, gemeinsam mit den anderen Genossen, er trinkt vielleicht einen Schluck Tee, er liest ein wenig oder plaudert mit anderen, die auch nicht schlafen können, über das Wetter oder den Fünfjahresplan! Keiner sieht ihm an, daß er eine Bestie ist! Keiner?« Karsanow wedelte mit der Hand durch die Luft. »Bei soviel Blut, wie Klaschka verloren hat, muß der Mörder auch mit Blut bespritzt sein! An seinen Schuhsohlen muß es kleben … Haben Sie gesehen, daß der ganze Toilettenboden rot war? Das wird ihn verraten!«
»Wollen Sie jetzt von Abteil zu Abteil gehen und jeden durchsuchen? Dann haben Sie die Panik, die Sie vermeiden wollen.« Forster schüttelte den Kopf. »Wir werden in Irkutsk noch genug Aufregung bekommen.«
»Wir machen es eleganter!« Karsanow überzeugte sich, daß die Toilettentür auch wirklich verriegelt war. »Wir schlendern von Abteil zu Abteil und werden uns jedesmal entschuldigen. Wir tun so, als suchten wir jemanden. Sagen wir – ein Freund hat uns eine Partie Schach versprochen und ist nicht gekommen.«
»Um vier Uhr morgens?«
»Ein Russe spielt immer Schach. Ihn kümmert dabei die Uhrzeit nicht!«
»Und was wollen Sie finden, Pal Viktorowitsch? Der Mörder hat sich längst gewaschen.«
»Die blutigen Schuhsohlen! So gründlich kann er sie nicht säubern! Meistens bleibt etwas hängen in der Stufe zwischen Sohle und Absatz. Das ist eine alte Erfahrung!«
»Halten Sie den Mörder für einen Idioten?«
»Nein! Für einen Triebtäter! Und solche Menschen übersehen meistens etwas. Wenn sie aus ihrem Rausch aufwachen, wenn sie wieder normal sind – dann vergessen sie Kleinigkeiten! Das kann Ihnen jeder Kriminalist bestätigen.«
»Aber Sie sind kein Kriminalist, Pal Viktorowitsch, Sie sind ein politischer Fänger.«
»Fangen Sie schon wieder an? Diese Deutschen! Kaum stehen ein Russe und ein Deutscher zusammen, schon schlägt man sich die Politik um die Ohren!«
Karsanow setzte sich in Bewegung.
Vom Schaffnerabteil kam Vitali Diogenowitsch.
Er hatte das Schild gemalt und heftete es nun mit zwei Nägeln an die Toilettentür. Dazu mußte er hämmern, und die Hammerschläge dröhnten laut durch die nächtliche Stille des Transsib. ›Wegen Reparaturarbeiten gesperrt!‹
»Nur Schwachköpfe!« meinte Karsanow fast traurig. »Nur Schwachköpfe donnern Nägel in eine Tür, wo man das Schild auch ankleben könnte! Kommen Sie, Werner Antonowitsch, mir läuft die Galle über!«
Sie gingen zu ihrem Wagen zurück, und Mulanow folgte ihnen wie ein treuer Hund.
Das Hämmern weckte einige Reisende, aber der Schaffner beruhigte sie und erklärte, daß die Toilette Nr. fünf gerade gesperrt würde: etwas mit der Wasserspülung klappte nicht. In Irkutsk würde es bestimmt repariert …
Die Reisenden waren zufrieden, schoben die Abteiltüren zu und schliefen weiter.
Milda hockte noch immer in ihrer Ecke, als Forster und Karsanow das Abteil betraten.
Mulanow blieb vor der Tür stehen, als wäre er als Ehrenwache abkommandiert.
»Ist … ist sie wirklich tot?« stammelte Milda. Ihre Stimme war piepsend wie ein junges Vögelchen.
»Toter geht es gar nicht«, antwortete Karsanow ungerührt-sarkastisch. »Es war eine gründliche Arbeit.«
»Nehmen Sie bitte ein wenig Rücksicht auf Milda!« sagte Forster tadelnd.
»Rücksicht! Da wird ein Mensch im wahrsten Sinne des Wortes abgeschlachtet, und man soll sich noch die Zunge mit Samt belegen! Werner Antonowitsch, man sollte Ihrer Milda die Tote zeigen!«
Karsanow setzte sich schwer. Das Bett knirschte, als bräche man Knochen.
Forster zuckte zusammen. Die Nerven! Man hat keine Stahlseile im Körper, bestimmt nicht! Irgendwo ist die Grenze der Belastung …
Auch Karsanow schien ziemlich am Ende zu sein. Er schielte neidisch nach dem Deutschen, der sich eine Zigarette anzündete.
»Auch eine?« fragte Forster.
»Gern!«
»Aus einer westlich-dekadenten Fabrik!«
»Sie sind ein Ekel, Werner Antonowitsch!« Karsanow rauchte in hastigen tiefen Zügen und
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