Transsibirien Express
Vitali und Mulanow wie aus einem Munde. »Amorfskij, wo steckt der Schuft jetzt?«
»Vielleicht in seinem Abteil, vielleicht auf dem Lokus – vielleicht rennt er auch wieder einem Weiberrock nach. Weiß ich es? Oberst Karsanow hat kommandiert: ›Alle Männer raus!‹ Das allein galt! Sollte ich mich mit dem KGB anlegen? Verrückt, Genossen! Wendet euch doch an den Obersten …«
Nach einer halben Stunde, in der man den ganzen Zug absuchte, wußte man es: Oleg Tichonowitsch Dagorski, dieser Bulle von Mann, war zurückgeblieben.
Während alle einstiegen und der Zug abfuhr, hatte er sich in den Schnee gelegt. Er hatte mit hämischem Lachen den Transsib an sich vorbeirattern lassen.
Jetzt war Dagorski frei und niemand konnte ihn wieder einfangen; es sei denn, ein geradezu wunderbarer Zufall trieb ihn in die Arme der Miliz.
So jedenfalls meldete es Schaffner Mulanow in strammer Haltung dem Obersten Karsanow.
»Wer denkt denn an so etwas?« sagte er ergänzend. »Bleibt der Kerl im Schnee liegen, im Sturm, in völliger Einsamkeit. Wenn das kein Beweis seiner Schuld ist!«
»Für ein Paar gestohlener Schuhe freiwillig Sibirien?« Karsanow schüttelte den Kopf. »So idiotisch ist keiner.«
»Kennen wir alle seine Untaten, Genosse?« fragte Mulanow dramatisch. »Der Ohrring der Generalswitwe Olga Federowna Platkina steht auch noch auf seinem Sündenkonto!«
»Auch das ist kein Grund, in der Taiga zu bleiben!« Karsanow blickte aus dem Fenster.
Immer noch versank draußen die Welt im Schnee. Der Oberst zog schaudernd die Schultern zusammen. Der Abend kroch durch das Grauweiß des Schneesturms, in einer halben Stunde war es dunkel.
Was macht ein Mensch allein in einer solchen Nacht in der Taiga?
»Er hatte einfach Angst«, sagte Forster, als könne er Karsanows Gedanken lesen. »Nichts als Angst! Da tut man vieles, was sinnlos ist. Man verläßt Züge … oder man springt auf Züge …«
Karsanow wandte sich um. Er sah in diesem Augenblick nicht mehr väterlich aus.
»Ich bin zu müde, um mich weiter mit Ihnen zu streiten«, sagte er. »Ich gebe Ihnen eine Atempause bis morgen. In der Frühe beginne ich mit dem strengen Verhör, es sei denn …« Er nickte versonnen und starrte hinaus in die beginnende Dunkelheit, in das Toben des Sturmes; »… Ihre süße Milda macht es dem Dagorski nach.«
»Das werden Sie nie erleben, Pal Viktorowitsch. Nicht, solange ich hier sitze.«
»Das beruhigt mich ungemein.« Karsanow stand auf.
Mulanow begann, die Sitze umzuklappen, sie in Betten zu verwandeln und das Bettzeug zu ordnen.
»Es ist peinlich, zwei Verhaftete zu verlieren. Betrachten Sie immerhin Milda schon jetzt als verhaftet …«
Eine Stunde später kam Milda ins Abteil. Die Nacht war vollkommen, das Geheul des Sturmes klang unheimlich durch die Fenster.
Karsanow, der bereits im Bett lag und las, richtete sich auf.
»Das ist die Höhe!« bellte er. »Kommt hier völlig selbstverständlich herein! Werner Antonowitsch, wollen Sie etwa vor meinen Augen und Ohren mit ihr schlafen?«
»Sie sind ein Schwein, Karsanow!« entgegnete Forster ruhig. »Legen Sie sich wieder hin. Wenn Sie sich etwas erhoffen – Sie werden enttäuscht sein! Milda bleibt hier ja … aber als Gast!«
»Unter Ihrer Decke.«
»Auf meiner Decke.«
»Wir wollen sehen.«
»Sie werden gar nichts sehen. Leider …«
Milda setzte sich zaghaft und blickte den wütenden Karsanow an, der sich wieder auf den Rücken warf und in seinem Buch weiterlas.
»Wo soll ich hin?« fragte sie leise. »Bei Klaschka kann ich nicht bleiben. Sie hat ihre Arbeit aufgenommen. Ich kann doch nicht daneben sitzen …«
»Du gehörst hierher, und wenn es hundert Karsanows gäbe!« sagte Forster provozierend laut. »Leg dich hin, Milda, und schlafe …«
»Und du, Werja?«
»Ich finde immer einen Platz.«
»Oben drauf!« fauchte Karsanow.
»Ich bin nicht müde –«, sagte Milda kläglich. Dabei zitterte sie nach diesem schweren Tag vor Erschöpfung. »Ich kann gut sitzen..«
»Du legst dich hin!«
Forster drückte sie an den Schultern auf das Bett, deckte sie zu und küßte sie auf die geschlossenen Augen.
Sie hob ihre kleine Hand, strich leicht über seinen Nacken und lächelte schwach. Dann streckte sie sich und schlief fast übergangslos ein.
Werner Forster richtete sich auf und rückte ans Fenster. Neben Mildas Beinen war Platz genug, um im Sitzen zu schlafen.
Karsanow blickte aus den Augenwinkeln zu ihm hin.
»Tatsächlich! Die Liebe ist doch eine
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