Transsibirien Express
hatte, überwältigte ihn diese Tat, und er reagierte sein Entsetzen ab, indem er immer weiter zustach.«
»Ein Irrer also!«
»Nein! Einer, der jetzt Angst vor sich selbst hat. Der plötzlich das wilde Tier in sich erkannt hat und damit nicht fertig wird.« Plotkin zertrat seine Papyrossa.
In diesem Augenblick hatte Oberst Karsanow große Hochachtung vor diesem Menschen. Das ist ein guter Psychologe, dachte er. Es kann alles so gewesen sein – aber auch anders! Keine Wissenschaft reicht aus, um einen Menschen wirklich kennenzulernen.
»Wir werden durch den Zug gehen und jeden herausholen, der unruhig ist. Nicht äußerlich … die Unruhe liegt bei ihm nur in den Augen!« erklärte Plotkin. »Ein Mensch, der Geld will, und der gegen seinen Willen tötet!«
»Und woher wußte er, daß Klaschka ihr Geld zwischen den Beinen versteckte?« fragte Mulanow.
Es war erstaunlich: der bescheidene, ruhige treue Beamte Mulanow warf einem alten Kriminalisten wie Plotkin die besten Überlegungen an den Kopf!
Der Leiter der Sonderkommission aus Irkutsk kratzte sich den Haaransatz und nickte mehrmals.
»Das ist es! Woher? Es gibt zwei Möglichkeiten: der Mörder hat es gesehen, als er mit Klaschka die … geschäftlichen Vereinbarungen traf … oder der Mörder gehört zum engen Bekanntenkreis der Toten. Wer wußte also von dem Lederbeutel?«
Mulanow wurde unruhig. Die Lage wurde fast ausweglos.
»Eine Handvoll«, antwortete er stockend. »Ich, Vitali Diogenowitsch, Wladlen Ifanowitsch, Milda Tichonowna und Werner Antonowitsch Forster …«
»Wer ist das?« fragte Plotkin laut.
»Ein Deutscher. Bergbauingenieur und Gast der Regierung. Ich verbürge mich für ihn!« Karsanow sagte es und schüttelte den Kopf.
Mulanow starrte ihn entgeistert an. Er bürgt für ihn, dachte er, und im Abteil schlagen sie sich fast die Köpfe ein.
»Sein Alibi ist so unangreifbar wie Rußlands Grenzen«, ergänzte Karsanow.
»Dann ist es faul!« entgegnete Plotkin trocken. »Am Ussun schießen die Chinesen wieder! Fünf Menschen wußten also sicher, daß Klaschka ihr Geld sehr … eigenwillig transportierte. Wir können diese Gruppe streichen.«
Er blickte Mulanow und Vitali, die beiden Schaffner, an Wladlen hatte er schon beim Einsteigen kennengelernt.
»Wer ist nun Milda Tichonowna?«
»Der Nachwuchs!« Karsanow winkte ab. »Sie war bei Werner Antonowitsch und mir im Abteil und … ist es wohl auch jetzt noch.«
»Eine …« Plotkin sprach es nicht aus. »Die ganze Nacht im Abteil! Und Sie haben daneben gelegen?«
Karsanow wurde dunkelrot. »Genosse, ich fasse das als kleinen Scherz unter Männern auf«, sagte er steif. »Obwohl wir keinen Anlaß haben, Witze zu reißen. Werner Antonowitsch aber ist ein Ehrenmann!«
Mulanow zweifelte jetzt daran, daß ein Mensch nur ein Gehirn im Kopfe hat. Karsanow mußte zwei haben und hin- und herschalten, wie es gerade nötig war.
Zum zweitenmal hatte er den Deutschen verteidigt … Wer soll sich da noch auskennen?
Karsanow hatte es vorausgeahnt: bei der ganzen Untersuchung kam nichts heraus.
Man näherte sich Irkutsk, die Taiga wurde lichter, Häuser standen in den dem Wald abgerungenen Gärten.
Dann fuhr man durch weite Felder, Industrieanlagen wirkten wie häßliche Klumpen in der Landschaft.
In Irkutsk konnte der Mörder ungehindert aussteigen. Man kann nicht einfach vorsorglich vierzig oder fünfzig Personen verhaften, obgleich das an sich kein Problem ist.
Aber die Zeiten hatten sich geändert – der sowjetische Mensch ist nicht mehr so anonym wie früher, er ist auch zu einer eigenen Persönlichkeit geworden …
Undenkbar, zu einem Unschuldigen zu sagen: Du bist verhaftet! Du bist ein Mörder! Und dann hat man keine Beweise …
Die Partei würde auf die Beamten einhämmern mit Protesten. Beamter zu sein, das war in Rußland schon immer eine Sache zwischen Ehre und Prügel …
Bis Irkutsk kämmte Plotkin mit seinen Assistenten den Zug durch. Wagen nach Wagen.
Er verhörte sogar den Tenor, der gestand, bisher genau zweitausendsechshundertvierunddreißigmal getötet zu haben. Meistens mit dem Degen – auf der Bühne!
Der General lachte darüber, daß ihm die Tränen über die Wangen flossen.
Plotkin war tief beleidigt und schnauzte den Tenor an, hier ginge es um einen Mord und nicht um die Probe zu einer komischen Oper.
Dann riß er die Abteiltür nebenan auf.
Milda Tichonowna schlief. Werner Forster saß am Fenster und hielt Plotkin unaufgefordert seinen deutschen Paß und
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