Transsibirien Express
stark.
»Da sind noch einige Unklarheiten«, sagte Plotkin, nachdem man Fedja die halbe Zigarette hatte rauchen lassen. »Sie haben etwas vergessen.«
»Nein!« Fedja schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht!«
»Die Schuhe!« Karsanow nahm Plotkin den Gedanken einfach weg. »Sie trugen die Schuhe des Seifenfabrikanten Skamejkin bei Ihrer Tat! Als Sie das Blut unter den Sohlen nicht schnell genug wieder abwischen konnten, haben Sie die Schuhe zu Skamejkin zurückgetragen und unter sein Bett geschoben.«
»Das stimmt«, sagte Fedja schlicht.
Nach seiner großen Erzählung war eine innere Ruhe über ihn gekommen, wie sie nur ein Mensch haben kann, der völlig resigniert.
Äußerlich zitterte er noch, aber innerlich war er an einem Punkt angekommen, wo einem alles gleichgültig wird – vor allem das eigene Leben.
»Sie haben also die Schuhe des Genossen Skamejkin gestohlen?« fragte Karsanow laut.
»Ja.«
»Und den Ohrring der Generalswitwe Olga Federowna Platkina?«
»Auch …«
»Warum nur einen Ohrring?«
»Auf dem anderen Ohr lag sie und schlief.«
»Das leuchtet ein!« Karsanow erhob sich und nickte Plotkin zu. Er hatte seine Arbeit getan; was jetzt folgte, war Routine. Das schriftliche Protokoll …
In Tschita würde man zusammen mit Fedja auch endlich Klaschka ausladen und menschenwürdig lagern. Jetzt war sie ein Eisblock.
»Ein sauberes Früchtchen, dieser Fedja Alexejewitsch Semlakow! Sie sehen, jetzt haben Sie einen Namen! Mit Nachnamen! Und das Stehlen hat Sie nie belastet, was?«
Und da sagte der Kellner etwas, was Karsanow zutiefst traf.
»Nein, Genosse Oberst. Mit einem Lohn von hundertfünf Rubeln ist man gezwungen zu stehlen. Man arbeitet sich krumm, und was dabei herauskommt, ist nur die eine Frage: Warum? Warum ist das in Rußland so?«
»Ein Philosoph des Volkes!« sagte Forster, als Karsanow zu ihm trat. »Jetzt wird dieser Fedja sogar ein Fall für den KGB!«
»Das war Musik in Ihren defätistischen Ohren, was?« knurrte Karsanow. »Ich kann Ihnen leider keine Statistiken zeigen, weil ich sie nicht mit mir herumschleppe. Aber ich könnte Ihnen beweisen, daß Rußland in der Kriminalität am Ende aller Staaten steht! Darauf sind wir stolz!«
Bis Tschita war Karsanow wirklich beschäftigt, wie Mulanow es geahnt hatte. Milda Tichonowna lief ihm nicht weg. Er kümmerte sich nicht mehr um sie, sondern saß bei Plotkin und spielte erstaunlicherweise mit ihm Schach.
Fedja hatte man in eine andere Toilette eingesperrt, der einzige Ort, wo er sicher war und den man entbehren konnte.
Die Reisenden des betroffenen Wagens allerdings waren anderer Ansicht. Abort fünf fiel wegen Reparaturen aus –, nun war auch noch Abort Nummer zwei gesperrt.
Es kam zu Stauungen, zu Diskussionen, zu Protesten.
Kurz vor Tschita war die Lage so ernst, daß jeder Wagen seinen Abort verteidigte wie eine Festung, daß Wachen aufgestellt wurden und man alle, die von fremden Waggons herüberkamen, erst auf den Trichter ließ, wenn aus dem eigenen Wagen keine Meldung vorlag.
Es war nämlich vorgekommen, daß ein ›Fremder‹ im Wagen sechs auf dem Lokus gemütlich die ›Prawda‹ las und das Kabinett eine halbe Stunde lang blockierte. Alles Klopfen und Gegen-die-Tür-Treten half nichts, und als der sture Genosse endlich herauskam, hätte man ihn fast gelyncht.
»Die Ordnung zerfällt!« jammerte Mulanow am Abend.
Forster war längst wieder in sein Abteil zurückgekehrt und hatte Milda alles berichtet.
Fassungslos hatte sie Fedjas Geständnis vernommen, und danach war die lange Zeit gekommen, in der sie allein saßen, sich küssen konnten und sich doch nichts zu sagen hatten, weil alles in ihren Augen, ihren Lippen und in ihren Händen lag, was zu sagen war.
»Fünfundfünfzig Jahre Kulturrevolution sind dahin, wenn zwei Scheißhäuser ausfallen!« stöhnte Mulanow und ließ sich auf die Bank, Milda und Forster gegenüber, sinken. »Sie benehmen sich wie die Tataren! Man muß das gesehen haben, Werner Antonowitsch: die Wachen vor den Aborten selektieren die Ankommenden nach dem Grad der Dringlichkeit! Und dann stehen sie mit der Uhr in der Hand vor dem Lokus, die Türe von innen zu verriegeln, ist verboten! Wer länger braucht als fünf Minuten – raus mit ihm! Man hat sogar Mathematiker und Programmierer zu Rate gezogen! Wir haben ja alles im Zug! Wer länger sitzt …«
Mulanow wischte sich über das Gesicht und schwieg eine Weile.
»Ich sage Ihnen, Werner Antonowitsch«, fuhr er dann fort, »sie
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