Transzendenz
Fausthieb in den Nacken, und ich musste mich setzen. Es lag einfach daran, dass der Junge, der diese Schachtel gefüllt hatte, verschwunden war, als ob er nie existiert hätte; die ganze reichhaltige, komplizierte Textur seines Lebens hatte sich aufgelöst. Das Leben war so reichhaltig, aber auch so vergänglich: Das war es, was mich traurig machte.
Über diesem alten Zeug Trübsal zu blasen füllte jedoch keine Sandsäcke. Ich schloss den Schrank, schlüpfte in ein T-Shirt und Shorts, trug frische Sonnencreme und Mückenschutz auf und ging die Treppe hinunter.
Die Veranda mit den Hängeschaukeln war noch heil, obwohl ihr ein wenig liebevolle Zuwendung gut getan hätte. Ich lief über die freie Fläche hinterm Haus dorthin, wo noch immer Johns Kinder spielten. Früher war es eine Rasenfläche gewesen; jetzt war es nur noch eine Betonplatte. Die beiden schenkten mir ein höfliches Glückskinderlächeln, und ich winkte ihnen zu und ging mit einem Arm voll leerer Säcke für den Sand weiter.
Von der Gartenpforte führte der alte Kiesweg zur Küste hinunter, so wie immer. Doch bevor ich zu den Dünen kam, überquerte ich Dämme, Abzugskanäle und Entwässerungsgräben und stieg über die verrottenden Überreste vieler, vieler Sandsäcke hinweg. Ich stellte mir vor, wie meine Mutter hier schuftete, entschlossen und störrisch. Aber ihre hydrologischen Systeme hatten allesamt versagt, und als ich zurückschaute, sah ich, wie die Sandsacklinien immer weiter zum Haus zurückwichen. Man konnte einen Ozean nun einmal nicht durch einen fünf Zentimeter breiten Abzugskanal ableiten.
Ich ging durch die Dünen und gelangte ans Ufer. Hier gab es noch so etwas wie einen Strand, aber er fiel steil ab und verschwand bald unter dem rastlosen Meer. Die Erosion hatte erbarmungslos zugeschlagen. Selbst die Dünen schienen weggefressen worden zu sein. Da und dort sah ich Flecken von grauem Schlamm, wie ein Stück Meeresboden, gar nicht wie ein Strand. Überall lagen Treibholz und verstreuter Plastikmüll herum, und ich ging an großen Riffen aus totem Seetang vorbei, der von Stürmen ausgerissen und an den Strand geworfen worden war. Die Riffe waren die Quelle jenes salzigen Verwesungsgeruchs, den ich zuvor wahrgenommen hatte. Überall wimmelte es von Insekten; es waren nicht nur Moskitos, sondern auch andere winzige Mistviecher, die sich auf meine unbedeckte Haut stürzten. Insekten, die großen Gewinner der Jahre des Artenschwunds.
Das Meer sah schön aus, so wie immer, selbst wenn es, aufgewühlt von den unaufhörlichen Stürmen, nicht ganz so blau war wie früher. Es fiel mir schwer zu glauben, dass es so viel Schaden angerichtet hatte.
Ich fand eine Düne, die dem Zahn der Zeit mit Hilfe kompakter Grasbüschel widerstand. In ihrem Schutz war der Sand sauber und sogar einigermaßen trocken. Ich hockte mich hin und schaufelte ihn in meine Säcke. Mittlerweile war es später Nachmittag. Ich schaute in die Sonne, die im Südwesten unterging, zu meiner Rechten.
Da sah ich sie.
Es war nur etwas in meinem Augenwinkel, eine winzige Bewegung, die mich ablenkte. Ich dachte, es wäre vielleicht der seltene Anblick eines Meeresvogels oder das Spiel des Sonnenlichts auf den Wellen. Ich stand auf, um besser sehen zu können. Es war eine Frau. Sie stand ein ganzes Stück weiter unten am Strand, und das Licht, das vom Meer hinter ihr reflektiert wurde, war grell; blendende Glanzlichter stachen mir in die Augen.
Morag?
Diese Begegnungen oder Besuche jagten mir nie Angst ein. Aber sie waren immer von Mehrdeutigkeit, Unklarheit und Ungewissheit gekennzeichnet. Es hätte Morag sein können, meine vor langer Zeit gestorbene Frau, aber sicher war ich mir nicht.
Ich verspürte auch einen gewissen Ärger, ob Sie es glauben oder nicht. Ich hatte mein ganzes Leben lang solche Erscheinungen gesehen und war an sie gewöhnt. In den letzten Monaten hatte ihre Häufigkeit jedoch zugenommen. Diese Visionen, Spukbilder oder was auch immer verfolgten mich geradezu. Ihre Unvollständigkeit schmerzte mich; ich wollte Klarheit. Aber ich wollte nicht, dass sie aufhörten.
Ich trat einen Schritt vor, um besser sehen zu können. Doch ich hielt einen dreiviertelvollen Sandsack in der Hand, und der Sand rieselte heraus. Deshalb bückte ich mich und stellte ihn auf den Boden. Dann musste ich über das Loch hinwegsteigen, das ich gegraben hatte. Eines nach dem anderen, wie das bei mir so ist. Als ich wieder aufblickte, war sie noch da, in Licht getaucht, obwohl
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