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Transzendenz

Transzendenz

Titel: Transzendenz Kostenlos Bücher Online Lesen
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sie jetzt ein Stück weiter entfernt zu sein schien.
    Sie winkte mir zu, ein weit ausholendes, herzliches Winken, mit dem Arm über dem Kopf. Mein Herz schmolz dahin. In dieser schlichten Geste lag mehr Wärme als in jeder Reaktion, die ich von John und seinen glücksmodifizierten Kindern geerntet hatte. Es war Morag, die vor siebzehn Jahren gestorben war; es konnte nur sie sein. Jetzt legte sie die gewölbten Hände an den Mund und rief mir etwas zu. Aber die Wellen rauschten, Echos eines weit entfernten Sturms über dem Atlantik, und nur ein Tonfetzen drang an meine Ohren. John, sagte sie. Oder vielleicht auch Bombe. Oder Tom.
    »Was hast du gesagt? Etwas über Tom? Morag, warte…« Ich machte ein paar ungeschickte Schritte nach vorn. Aber vor der Dünenlinie wurde der Sand rasch schlammig, und bald waren meine Füße und Unterschenkel mit großen, schweren Stiefeln aus klebrigem Meeresgrundschleim überzogen. Dann kam ich zu einem dieser großen Tangriffe, die sich hoch auftürmten und zu einem stinkenden Brei zergingen. Ich lief hin und her und suchte nach einem Weg hindurch.
    Als ich an den Haufen aus verrottendem Tang vorbeischaute, war sie bereits verschwunden.
     
    Oben beim Haus waren die Kinder schon hineingegangen, um sich auf Grandmas riesigem, an der Wand angebrachtem Softscreen ein immersives virtuelles Drama anzusehen. Die steigende Flut hatte überall ums Haus herum Wasser aus dem Boden sprudeln lassen, bis es schließlich den Garten überschwemmte; dagegen war selbst ihr intelligenter Fußball machtlos.
    Während die Sonne unterging, half ich John bei seiner geduldigen Malerarbeit.
    Wir trugen die Farbe mühevoll auf. Es war ein schweres, klebriges Zeug voller Klumpen, und es war schwierig, es gleichmäßig aufzutragen. Mit seinem silbernen Farbton sah es auf den Schindelwänden meiner Mutter seltsam aus; das Maus wirkte damit wie eine Studiokulisse. Und als wir die Farbe aufspachtelten, fing sie an, uns mit einer Flüsterstimme zu danken, die von der Wand herbeiwehte: Danke, vielen Dank, dass Sie sich an alle örtlichen KI-Vorschriften halten, danke…
    »Ach, leck mich doch«, sagte John.
    Die dubiose Farbgebung war einer der Gründe, weshalb meine Mutter dieses Zeug hasste. Das Silber reflektierte jedoch einen großen Teil des Sonnenlichts und senkte dadurch die Kosten für die Klimaanlage, und die eingebetteten Fotovoltaik-Zellen machten das ganze Haus zu einer Sonnenenergiesenke.
    Außerdem wimmelte es in der Farbe nur so von Prozessoren, Milliarden winziger, nanofabrizierter Computer von der Größe eines Staubkörnchens und ungefähr so intelligent wie eine Ameise. Während des Farbauftrags verkoppelten sich die kleinen Gehirne durch das leitende Medium der Farbe selbst miteinander, gruben sich ihren elektronischen Weg in die Systeme des Hauses und suchten Anschluss zu Steckdosen und Stellantriebssteuerungen. Künstliche Intelligenz aus der Dose: In meiner Kindheit wäre es mir wie ein Wunder erschienen. Heutzutage war künstliche Intelligenz ein Konsumartikel, und dies hier war nichts weiter als eine anstrengende Tätigkeit.
    Eine Weile arbeiteten wir in gleichmütigem Schweigen, mein Bruder und ich. Das Licht sickerte aus dem Himmel, und die Verandalampen meiner Mutter, große, nüchtern-sachliche Glühlampen, erwachten abrupt zum Leben. Moskitos umschwärmten uns summend.
    John machte Konversation. »Na, wie steht’s denn nun mit dem digitalen Jahrtausend, hm? Du bist der Ingenieur; sag mir, ob ich mir Sorgen machen muss.«
    Ich zuckte die Achseln. »Wir werden’s überleben. Genauso wie die Zeitumstellung aufs dritte Jahrtausend. Wird schon nicht so schlimm werden. Sie haben probehalber ein paar Systemexkavationen durchgeführt, um es zu testen.«
    John lachte über meine Wortwahl. Exkavationen.
    Es war die neueste Horrorgeschichte, die über den gesamten Erdball hinwegrollte. Das Datum des nächsten Jahres, 2048, war eine Zweierpotenz, nämlich zwei hoch elf, und würde deshalb mit einer zusätzlichen binären Ziffer im Speicher der miteinander verbundenen Computersysteme der Welt dargestellt werden müssen. Niemand wusste so recht, was dabei mit den teils viele Jahrzehnte alten, von Verbesserungen und Verzierungen überkrusteten Legacy Suites geschehen würde, jenen überkommenen Programmpaketen, die immer noch im Kern vieler großer Systeme lagen; ein grässlicher alter Code, der im Computerspeicher vor sich hin rottete wie der Seetang am Strand meiner Mutter.
    »Aha«, sagte John.

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