Transzendenz
Stinkefinger, wenn wir vorbeifuhren, aber hier waren die Erwachsenen in der Überzahl.
Ladenbesitzer riefen uns etwas zu und hielten uns Proben ihrer Waren hin, unidentifizierbare Fleischstücke an Spießen. Die Menschen schienen Angehörige aller ethnischen Gruppen zu sein, so weit ich sehen konnte, ein echter Schmelztiegel. Und viele waren jung; es gab jede Menge Teenager, Heranwachsende und junge Erwachsene. Verglichen mit der altertümlichen Reglosigkeit der traditionellen Stadt war es, als führen wir durch einen riesigen Kindergarten.
Im Schutz unseres Glaskokons konnten wir nichts von alledem berühren oder riechen. Selbst die Stimmen waren gedämpft. Es hatte etwas Unwirkliches, wie ein für uns arrangiertes VR-Theaterstück.
»Keine Angst«, sagte Rosa. »Viele von ihnen kennen mich. Und heutzutage ist die Überwachung hier ohnehin ziemlich gut.«
»Ich habe keine Angst. Ich bin höchstens ein bisschen erschrocken.«
»Vielleicht warst du noch nicht lange genug in Sevilla. Selbst mich beunruhigt das Gedränge hier manchmal… Ah. Wir sind fast im Zentrum.«
Wir überquerten eine niedrige Kuppe und fuhren in ein breites, weites Tal hinunter. Aus dieser Höhe konnte ich sehen, dass sich die Hüttensiedlung um mich herum kilometerweit in alle Richtungen erstreckte; die grob gezimmerten Bauten bedeckten die Erde wie ein Teppich. Einzelne Rauchfäden stiegen von Feuern oder Methanfackeln empor. Ich sah ein paar massivere Gebäude, verstreute Betonblöcke inmitten der Schrotthütten. Vielleicht waren es Krankenhäuser, Schulen, Polizeireviere oder Sozialhilfeeinrichtungen. Und über uns flogen Drohnen, glitzernde Insekten, die über dieser Ebene aus Abfall schwebten. Die Zeichen der Staatsmacht beruhigten mich. Ich bin wohl wirklich nicht sonderlich tapfer.
Unsere Straße führte auf ihrer eigenen geraden Linie durch all dies hindurch. Doch etwa einen Kilometer vor uns endete sie abrupt. Eine Art Gebirgskamm schob sich aus der Ebene in die Höhe, beendete die Straße und versperrte uns den Weg. Er glitzerte, als wäre er von Glassplittern bedeckt.
Es war eine metallische, gläserne, zerknautschte Mauer, die sich nach links und rechts erstreckte, so weit das Auge reichte.
Rosa beobachtete meine Reaktion. »Das ist das Riff«, sagte sie. Sie beugte sich vor und tippte gegen die Windschutzscheibe der Kapsel. »Ich glaube, diese Klapperkiste verfügt über ein paar Bildbearbeitungsvorrichtungen…« Ein runder Ausschnitt der Windschutzscheibe zeigte uns ein vergrößertes Bild dessen, was vor uns lag.
Das Riff war keineswegs natürlichen Ursprungs, wie ich sah. Es war von Menschen gemacht. Es war ein Haufen von Automobilen.
Autos über Autos, aufeinander gestapelt, zerdrückt von ihrem eigenen Gewicht, von Stücken geborstener Windschutzscheiben und knallbunten Farben glitzernd, alles mit einer orangefarbenen Rostpatina verbunden: so viele Autos, das man sie nicht mehr zählen konnte. Es ähnelte einem riesigen Haufen toter Käfer. Und als ich das Abbildungssystem unserer Kapsel zu bedienen lernte und meinen Blick wie ein Gott über das Riff schweifen ließ, sah ich darauf Menschen, wohin ich auch schaute: Sie krabbelten und kletterten darauf herum, gruben darin und arbeiteten daran.
Das Kapseltaxi rollte aus und kam zum Stehen. Seine Kuppel klappte auf, und plötzlich war die Fahrgastzelle von einem wüsten Stimmengewirr erfüllt. In der Nähe hörte man einzelne Rufe, dahinter eine Vielzahl von Stimmen, wie Möwenschreie – und dann ein noch größeres Getöse, wie brechende Wellen, der Klang von einer Million Stimmen, die zu einer einzigen verschmolzen. Dann waren da die Gerüche. Es roch wie eine Straße. Ich roch Teer, Asphalt, Gummi und einen schärferen Gestank, vielleicht Reifen, die irgendwo brannten. Mir wurde sofort übel, aber ich versuchte es zu verbergen.
Rosa sog diese giftige Mixtur mit wonniger Miene ein. »Ah, herrlich. Früher hat die ganze Welt so gerochen: nach Auto. Ein paar Stunden werden dir nicht schaden.«
Vor mir erhob sich das Riff. Wir befanden uns erst in seinen Ausläufern, und die zerquetschten, verstümmelten und ausgeschlachteten Autos, aus denen es bestand, waren ins Erdreich gedrückt, aber seine Schulter ragte wie ein Gebirge über uns auf.
Rosa beobachtete mich. »Ich weiß, das ist alles geradezu überwältigend.«
Ich fühlte mich unwohl dabei, von einer fast neunzig Jahre alten, gebeugten Frau derart unter die Fittiche genommen zu werden. »Mir geht es
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