Transzendenz
überquellenden Landaufschüttungen ab. Für die Menschen von Sevilla gab es also nur einen logischen Ort, um ihre plötzlich nutzlosen Autos loszuwerden, nämlich jene stinkende, von Ratten wimmelnde Müllstadt gleich hinter dem Horizont. Diese Praxis hatte um sich gegriffen, und bald bezahlten Städte im übrigen Spanien Sevilla dafür, dass es ihnen ihren Müll abnahm. »Ein frühes Beispiel des ökologischen Ablasshandels«, sagte Rosa trocken. Schließlich floss der Detritus der Automobilindustrie eines modernen Staates hierher und wurde von den mechanischen Muskeln von Pressen, Grab- und Zerkleinerungsmaschinen zu diesem gewaltigen Gebirgskamm aus Autowracks aufgehäuft. Währenddessen wuchsen die Müllberge darum herum immer weiter.
»So ist das Riff entstanden. Die Menschen waren schon hier, haben im Müll gestöbert und versucht, sich damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber dann gab es eine Schwemme von Neuankömmlingen. In den 2020ern war Südspanien weit offen für Flüchtlinge, besonders aus Afrika. In der Straße von Gibraltar muss man nur ein paar Kilometer Wasser überqueren…«
Die Zeit unmittelbar vor dem Patronat war von wachsender Panik und einem Gefühl der Hilflosigkeit geprägt, denn die Probleme gerieten zunehmend außer Kontrolle. Zu den schlimmsten Dingen gehörte die Ausbreitung von Infektionskrankheiten aus den Tropen wie dem Dengue-Fieber, der Enzephalitis und dem Gelbfieber. Onkel George sagte immer, das habe so kommen müssen. Als die Welt sich erwärmte und Moskitos und Zecken auch in höheren Breitengraden überleben konnten, überschritten die Krankheiten die Grenzen ihrer herkömmlichen Verbreitungsgebiete und trieben menschliche Populationen wie Hirten vor sich her.
Wahre Flüchtlingsströme waren über Spanien hereingebrochen. Ihr Ziel waren die Städte des Südens. Die Flüchtlinge suchten Arbeit, Beistand, Hilfe. »Und sie brachten natürlich die Krankheiten mit, denen sie zu entkommen versucht hatten«, sagte Rosa grimmig. »Den Behörden gelang es nicht, diese von Seuchen befallenen Unerwünschten aus dem Land fern zu halten. Aber sie schafften es, sie aus den zu verbannen.«
Im Gebiet von Sevilla hatten sich die Flüchtlinge hier beim Riff gesammelt, denn in dem austrocknenden Land konnten sie nirgendwo anders hin; nirgends waren sie willkommen. Sie schliefen in der Wärme der riesigen, verfaulenden Abfallhaufen, und sie gruben darin, zusammen mit den Ratten, Möwen, Krähen und Käfern, einer ganzen Gemeinschaft von Müllverwertern, die vor ihnen dorthin gekommen war.
»Und natürlich begannen die Müllverwerter, andere Müllverwerter zu fressen«, sagte Rosa. »Es dauerte nicht lange, dann hatte sich eine Nahrungskette etabliert.«
»Mit den Menschen an der Spitze?«
»Nicht unbedingt«, sagte Rosa. »Denk an die Krähen.«
Sie überlebten, oder zumindest einige von ihnen. In solch einer Lage bekamen die Menschen früh Kinder und starben auch früh. Bald liefen ganze Generationen von Kindern umher, die nichts als diese Müllwelt kannten.
Dessen ungeachtet lud die Stadt jedoch in jener Zeit weiterhin ihren Müll hier ab. Es war eine ungeheure Realitätsverleugnung, dass die Bürger einer noch blühenden Stadt wie Sevilla einfach die gigantischen Moderhaufen, die sie weiterhin erzeugten, und die Unglücklichen, die nun hier lebten, zu ignorieren vermochten. Und dies war nicht die einzige Müllstadt auf dem Planeten; es gab noch andere, in der Nähe von Lagos und Manila, von Beijing und Wladiwostok – und, wie Rosa mir zu meiner Überraschung erklärte, sogar ein paar in den USA.
Rosa hatte zu den ersten hiesigen Priestern gehört, die mit den Einwohnern des Riffs Kontakt aufzunehmen versucht hatten. »In jenen Tagen war es wie ein Kreis der Hölle«, sagte sie. »Es gab Hungersnöte und Krankheiten und keine Regierung, keine Kontrolle, keine Überwachung. Die Polizei und das Militär zäunten den Ort bloß ein und überließen alles, was sich innerhalb der Grenze befand, der Selbstzerstörung und Verwesung. Also war das Verbrechen weit verbreitet. Die Unterwelt von Sevilla benutzte diesen Ort als Mine für Menschenfleisch, mit dem sie machen konnten, was sie wollten – und seien es nur Zielübungen. Stell dir das vor.«
Ende der 2030er Jahre, als das Geld des Patronats zu fließen begann, änderten sich die Dinge. Auf einmal entdeckten die Menschen, dass sie doch ein Gewissen hatten, und Sevilla wandte seine Aufmerksamkeit der riesigen Eiterbeule auf
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