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Transzendenz

Transzendenz

Titel: Transzendenz Kostenlos Bücher Online Lesen
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jungen Massengeistes selbst bei seinem Übergang von nebliger Unbewusstheit zum Ichbewusstsein. Der auffallendste Ton war eine überraschend simple, große Freude, die Freude, am Leben zu sein: der triumphale Schrei Ich bin!
    Und dennoch gab es ein musikalisches Ornament des Kummers, einen Triller der Trauer.
    Erneut gewahrte sie die Masse der Körper, die Köpfe, aus denen der Massengeist hervorgegangen war. Sie sah, dass es Knoten in der Verteilung geistiger Wesenheiten gab – Knoten der Dichte, des Widerstands, einer Art Sturheit, des Alters. Dies waren die Unsterblichen, der uralte Kern der Transzendenz. Und hier hatte die Trauer ihr Zentrum.
    Alia wurde zu dem Schmerz hingezogen, auf der Hut, aber neugierig, wie eine Zungenspitze, die prüfend einen schmerzenden Zahn betastet. Und plötzlich wurde sie von den Schreien Abermilliarden gemeinsam erhobener, gepeinigter Stimmen bombardiert. Sie reagierte mit einem Schrei.
    Trotz ihrer Qualen wusste sie, was das war. Dies war die Erlösung, die Beobachtung der blutgetränkten Vergangenheit. Zu dieser dunklen Grube mitten im Herzen der Transzendenz strömten all jene gewissenhaft zurückgeholten Erinnerungen. Es war übermenschlich. Es war unerträglich. Sie warf sich herum und schlug um sich. Es war falsch, schrecklich falsch. Die Campocs hatten Recht…
    Sie war wach, war wieder nur Alia, und sie lag auf einer durchgeschwitzten Matratze. Ein besorgtes Gesicht schwebte über ihr wie eine Laterne. Es war Drea. Ihre Schwester wischte ihr die Stirn ab, und Alia spürte, dass ihr Fell dort an der Haut klebte.
    »Du hast geschrien«, sagte Drea. »Hattest du einen Albtraum? Geht es dir gut?…«
    Alia packte ihre Schwester und zog sie an sich.
     
    Der Morgen kam.
    Die kleine Welt draußen vor der Fähre sah noch trister aus, die Menschen wirkten noch langweiliger. In ihren Köpfen mochte ein Feuer gebrannt haben, dachte Alia, aber ihre Körper waren ausgelaugt. Ihr ging es einfach nicht in den Kopf, dass eine solch komplexe Herrlichkeit wie die Transzendenz aus der Schäbigkeit dieses spärlich bevölkerten Steinbrockens hervorgehen konnte.
    Niemand sprach mit ihr, auch Reath nicht, nicht einmal Drea. Sie schienen alle Angst vor ihr zu haben.
    Alia ging zu ihrem Beobachtungstank. Er leuchtete auf und zeigte ihr den wurmartigen Faden von Pooles gesamtem Leben. Wenigstens er würde sich nicht von ihr abwenden. Spontan wählte sie einen Moment aus.
    Poole saß mit seinem Sohn in einem Krankenzimmer. Mit schlaffen Gesichtern hockten sie nebeneinander und hielten sich an der Hand, auf subtile Weise voneinander entfernt, eingefroren in der Zeit. Sekunden zuvor hatten sie erfahren, dass Pooles Baby kurz nach der Geburt gestorben war, und Morag, Pooles Frau, mit ihm. Alia glaubte, dass dies der entscheidende Augenblick von Michael Pooles gesamtem Leben war, seine persönliche Singularität, jener Moment, in dem die Kegelschnitte zu einem Punkt, einer neuen Qualität zusammenschnurrten. Der Moment, in dem er alles verlor.
    In Michael Pooles Zeit wurde man allein geboren und starb auch allein, aber man verbrachte sein ganzes Leben mit dem Versuch, zu anderen durchzudringen, sei es durch Liebe, durch Sex – oder sogar durch Gewalt, die blutige Intimität des Tötens. In seiner Liebe zu Morag, in den wenigen ozeanischen Monaten bis zur Entbindung ihres Babys war Poole so nahe daran gewesen wie nie zuvor, einen anderen Menschen durch die Barrieren hindurch zu berühren. Doch angesichts dieser Tode fiel er wieder auf sich selbst zurück, schon jetzt, nur ein paar Sekunden, nachdem er die schreckliche Nachricht vernommen hatte. Und Alia wusste dank ihrer unwillkommenen Kenntnis seiner Zukunft, dass er sich nie wieder erholen, nie wieder jemandem so nahe kommen würde.
    Was hätte Michael Poole von der Transzendenz gehalten?
    Was hätte er von ihr gehalten, die sich in der Kabine einer Fähre versteckte, sich furchtsam vor ihrer Bestimmung duckte? Hätte er sie um diese Gelegenheit beneidet, die Transzendenz zu berühren und in sie aufgenommen zu werden? Hätte er sich danach gesehnt, anderen Menschen so nah zu kommen? Oder hätte er ihre allertiefste, elementarste Furcht verstanden, der sie nicht einmal Drea gegenüber hatte Ausdruck verleihen können – die Furcht, dass sie sich in einer solch engen Verbindung mit anderen letztendlich verlieren würde? Und was hätte er von dem schrecklichen, obsessiven, selbst zugefügten Schmerz der Erlösung gehalten?
    Geistesabwesend ließ sie

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