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Transzendenz

Transzendenz

Titel: Transzendenz Kostenlos Bücher Online Lesen
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und das Nervensystem des Kindes herausbildeten, entwickelte sich auch sein Geist weiter.
    Anfangs hatte es kein Zeit- oder Raumgefühl gegeben, sondern nur Abstraktionen wie Getrenntheit – des einen vom anderen –, und nur Ereignisse, unverbunden und akausal. Die Zeit bildete sich allmählich als ein Gefühl für Ereignisse in einer Abfolge heraus: zuerst die Hände, dann das zelluläre Artensterben, dann die sich trennenden Finger, eines nach dem anderen. Raum kam danach, als der Körper selbst an Ausdehnung zunahm und sich aus der Formlosigkeit zu einem Werkzeug herausbildete, mit dem der kleine Junge auf begrenzte Weise den Raum um sich herum erforschen konnte. Zunächst war es ein passives Erforschen, nicht viel mehr als die undeutliche Erkenntnis, dass das Universum mindestens groß genug sein musste, um seinen Körper zu umfassen. Aber dann hatte er Finger, die er ausstrecken, und Beine, mit denen er treten konnte. Bald konnte er den Beutel fühlen, in dem er sich befand, konnte gegen seine Wände treten, und in ihm keimte das Gefühl, dass sich außerhalb dieses Beutels ein größeres Universum befand, welches vielleicht Wesen umfasste, die mehr oder weniger so waren wie er selbst.
    Dieses Gefühl verstärkte sich, als das Sehvermögen kam. Er machte einen trüben rötlichen Lichtschein aus, der stärker und schwächer wurde. Manchmal, wenn das Licht am hellsten war, erkannte er sogar die blasse, fischähnliche Form seines eigenen Körpers, die Schnur, die ihn an den Wänden um ihn herum verankerte.
    Aber das Licht wurde schwächer und stärker, schwächer und stärker, und ein neues Zeitgefühl drängte sich ihm auf: eine Zeit, die nicht von den Vorgängen in seinem eigenen Körper bestimmt wurde, sondern ein Zyklus, der von einer größeren Welt außerhalb seiner selbst kam. Es gab also Prozesse, die unabhängig von ihm abliefen; er war nicht das ganze Universum – obwohl es sich immer noch so anfühlte.
    Dann kamen prägnantere Empfindungen, die ihm in einem reichen Blutstrom gebracht wurden. Die Ernährung, die er erhielt, war reichhaltig oder dünn, vertraut oder fremd. Manchmal war sie sogar ein wenig giftig, sodass er sich unbehaglich in seinem Tank aus Fleisch hin und her wälzte. Dies kam von der Mutter, wusste er auf einer tiefen Ebene.
    Das Kind im Mutterleib hatte hier noch eine weitere Lektion zu lernen. Es gab nicht nur ein Universum außerhalb seiner Gebärmutter, sondern es gab auch Geschöpfe dort draußen, die ihm ihren Willen aufzwangen: selbst seine Mutter, die ihr eigenes Leben führte, während sie seines in sich barg. Es war eine wachsende Wahrnehmung der Getrenntheit, die den letztendlichen Verstoß des Kindes aus dieser zinnoberroten Behaglichkeit in die rauere, weitaus weniger mitfühlende Welt jenseits der Gebärmutterwände ankündigte.
    Doch nun kam der Schmerz.
     
    Er war enorm stark. Er überschwemmte das noch in der Entwicklung begriffene Nervensystem des Kindes, als wäre ihm heißes Quecksilber injiziert worden. Die Gebärmutterwände zogen sich zusammen und drückten gegen den hilflosen Körper, überwältigten seine Gegenwehr. Der kleine Junge hatte einen neuen Geschmack auf der weichen, rosaroten Zunge, einen Geschmack, den er nicht erkennen konnte, den er nicht kennen sollte, noch nicht. Aber Alia erkannte den Eisengeschmack. Es war Blut.
    Etwas stimmte ganz und gar nicht.
    Der Schmerz verging. Das Kind entspannte sich erschöpft. Es tastete im Dunkeln umher, steckte sich einen winzigen Daumen in den Mund und nuckelte. Alia, die bei ihm schwebte, hätte es so gern getröstet. Aber die Erinnerung an den Schmerz saß tief, und nichts war mehr genauso wie zuvor oder konnte jemals wieder so sein.
    Nun gab es eine weitere Störung in dieser amniotischen Zuflucht. Es war etwas Spitzes, und es war kalt – unglaublich in diesem kleinen Universum aus weichem, schützendem Fleisch. Eine Sonde, dachte Alia, die von außen hereingeschoben wurde. War es möglich, dass jemand dort draußen diesem beschädigten Kind zu helfen versuchte? Aber wenn, auf welch primitive Weise! Das Kind schlug um sich, verstört bis ins Innerste seines Wesens. Die Sonde saugte etwas vom Fleisch des Kindes ab und zog sich zurück. Das Kind krümmte sich in sich zusammen, kratzte sich mit den Händen in dem kleinen Gesicht. Erneut kehrte Frieden ein, wie ein Echo der endlosen Stille, von der das Kind bei seiner Empfängnis getrennt worden war. Aber er blieb nicht lange bestehen.
    Und als der Schmerz

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