Transzendenz
anderen betraf, so war Deadhorse ein ziemlich trostloses und langweiliges Kaff, und ich war plötzlich ein beliebtes Objekt von Gerüchten. Makaay ärgerte sich darüber, dass seine Leute von »dieser dummen Episode am Rande« abgelenkt wurden, wie er es nannte; es gab ohnehin schon zu viel zu tun, da war das »nur störend«. Shelley war behutsamer. Sie sagte nicht viel, und ich wusste, sie würde mich bei dem Versuch unterstützen, diesen seltsamen Knoten in meinem Leben zu lösen. Aber ich glaube, auch sie wünschte, es werde sich alles einfach in Wohlgefallen auflösen.
Was Tom betraf, so ging er mir tagelang aus dem Weg.
Ich befolgte Shelleys Rat, ihn nicht zu drängen. Er musste schließlich eine Menge verarbeiten: Dies war das erste Mal, dass auch ihm ein Geist erschienen war. Und wie Sonia mir in einem diskreten Moment anvertraute, war obendrein sein Stolz verletzt worden. Was auch immer die Ursache gewesen sein mochte, fünfzig Leute hatten ihn am Boden zerstört und schluchzend auf der gefrorenen Erde liegen sehen. Also versuchte ich, ihm Raum zu lassen.
Aber ich selbst musste der Sache nachgehen. Ich stellte die Aufzeichnungen dieses Tages zusammen und beamte sie über eine Leitung mit hoher Bandbreite zu Rosa hinüber, meiner verhutzelten, schwarz gekleideten Tante in Sevilla, um zu erfahren, was sie von ihnen hielt.
Eine Woche nach diesem seltsamen Tag rief Rosa mich zurück.
Ruud Makaay fügte sich ins Unvermeidliche und gab uns einen seiner Konferenzräume, damit wir Rosas Anruf entgegennehmen konnten. Tom und Sonia waren da – allerdings blieb mir nicht verborgen, dass er nur auf ihr Drängen hin teilnahm. Ich verstand seinen Widerwillen, aber mein Sohn war kein Feigling, und ich wusste, dass er sich letzten Endes all diesen Seltsamkeiten stellen würde. Trotzdem bat ich auch Shelley Magwood hinzu. Mir war schon öfter aufgefallen, dass wir Pooles uns untereinander besser benahmen, wenn Außenstehende dabei waren. Vielleicht hatte ich aber auch nur das Gefühl, dass ich eine Verbündete brauchte. Gea, meine seltsame künstliche Gefährtin, war ebenfalls zugegen.
Wir nahmen an einem schlichten runden Tisch Platz, und Geas kleiner Spielzeugroboter-Avatar rollte auf der Tischplatte hin und her.
Dann materialisierte Rosa zwischen uns, eine dunkle, brütende Präsenz in ihrem schwarzen Priestergewand. Die VR-Anlage war eher funktionell als konzerntypisch luxuriös, und man sah eine geisterhafte zweite Fläche, wo die Projektion von Rosas Tisch unseren überlagerte.
»Also«, lächelte Rosa uns an. »Wer fängt an?«
Tatsächlich war es Gea, die als Erste das Wort ergriff. Sie hatte die Aufzeichnungen der Überwachungsgeräte von jenem Tag analysiert und rief einen Ausschnitt auf, der die Erscheinung zeigte; auf der Tischplatte agierten Zwerge, zehn Zentimeter große Modelle von mir, Morag, Tom und Sonia. Die Auflösung war gut, viel besser als bei Rosas Bild vom Riff; das ganze Gebiet um das Zelt und die Bohrinsel herum hatte nur so getrieft von Sensoren. Und die Daten waren nicht auf den Aufnahmebereich der menschlichen Sinne beschränkt. So konnte Gea uns beispielsweise ein Röntgenbild von Morag zeigen; wir sahen Knochen, ein normal aussehenden Skelett, die geisterhaften Bilder innerer Organe – ein Gehirn, ein Herz.
»Was immer dieses Geschöpf sein mag«, sagte Gea, »der Körper von ›Morag Poole‹ reagiert auf alle unsere Sensoren. Er hat Masse, Volumen, eine innere Struktur. Er befindet sich in unserem Universum. Er ist keine Halluzination und kein Geist in dem Sinne, wie ich es verstehe. Er ist wirklich da.«
Aber wer war das? Gea schnitt ein kleines Volumen um Morags Kopf aus und blies es auf, bis es lebensgroß war, ein körperloser Kopf mit einer heiteren, etwas leeren Miene. Sie legte ein Röntgenbild des Schädels darüber und verglich es mit Bildern von Morag aus ihren Krankenakten und meinem eigenen privaten Archiv. In rasantem Tempo wurden wir durch einen Punkt-für-Punkt-Abgleich von Gesichtsstrukturen, den tiefer sitzenden Knochen, ja sogar ihren Zähnen geführt. All dies dauerte nicht länger als ein paar Sekunden. Die Implikation war klar: Jeder Forensiker wäre zu dem Schluss gelangt, dass es sich bei dem Gesicht in unserem Bild tatsächlich um das von Morag handelte.
»Aber es gibt Anomalien«, sagte Gea.
Das Morag-Geschöpf war dicht und massiv; tatsächlich war es ungefähr doppelt so schwer wie ich, wie Gea anhand der seismischen Echos seiner Schritte
Weitere Kostenlose Bücher