Transzendenz
war nichts, was das Ich verstehen sollte, nicht jetzt, noch nicht. Und diese Erkenntnis der Falschheit war selber falsch. Eine Rekursion setzte ein, eine Rückkopplungsschleife, die diese Wahrnehmung von Falschheit multiplizierte.
Hier war eine weitere Trennung, eine Distanzierung. Innerhalb des Ichs – oder um es herum oder neben ihm – war ein weiterer Blickpunkt, vom Ich getrennt durch eine Bewusstheit, die niemals Teil des Ichs selbst sein konnte. Der Blickpunkt war ein Betrachter dieses wachsenden Dings, dieser knospenden, koaleszierenden Entität. Er fühlte alles, was das Ich fühlte; er war ihm in jedem Sinn so nahe, wie es nur möglich war. Und dennoch war er nicht mit ihm identisch.
Dieser getrennte Blickpunkt war Alia. Sie kannte sich, wusste, wer sie war. Sie besaß sogar ein dunkles, abstraktes Bewusstsein ihres anderen Lebens, wie einen halb erinnerten Traum.
Unterdessen wuchs das Ich, das Objekt ihrer Betrachtung, weiter.
Dieses unablässige Knospen war nicht willkürlich. Im fertigen Körper würde es hunderte verschiedener, auf unterschiedliche Aufgaben spezialisierter Arten von Zellen geben. In dieser wachsenden Zellenstadt keimte bereits eine Organisation. Da war ein komplizierter Haufen, der vielleicht ein Nervensystem werden würde, mit Fortsätzen, die vielleicht zu Fingern, Augen, einem Gehirn erblühen würden. Und dort waren simplere Blöcke, aus denen vielleicht Nieren, Leber und Herz hervorgehen würden.
Dies war ein wundersamer Prozess, denn nichts erklärte den Zellen, wie sie sich auf diese Weise organisieren sollten. Während die Zellen sich teilten, wuchsen und sich erneut teilten, kommunizierten sie mit ihren Nachbarn durch Salze, Zucker und Aminosäuren, die vom Zytoplasma einer Zelle zu dem einer anderen wanderten. Auf diese Weise bildeten die Zellen Kollektive, die jeweils der Entwicklung einer speziellen Funktion geweiht waren – etwa der eines Trommelfells oder einer Herzklappe – und durch ihre Zusammenballung auf einer höheren Ebene dafür sorgten, dass Ohren und Herzen, Arme und Beine an der richtigen Stelle entstanden. Aus diesem Netz von Interaktionen und Rückkopplungen entwickelte sich die Organisation eines menschlichen Körpers.
Der gesamte Prozess war die Herausbildung von Komplexität, ein Ausdruck eines Grundprinzips des Universums. Selbst das Ich, jener hauchfeine, ungeformte Geist, der in diesem expandierenden, immer komplexer werdenden Haufen steckte, war eine emergente Eigenschaft des wachsenden Netzwerks von Zellen. Und doch gab es hier bereits Bewusstsein und eine tiefe, überschäumende, freudige Wahrnehmung von Wachstum, von zunehmendem Potenzial, von Sein.
Nun kam seltsamerweise der Tod zu dem sich differenzierenden Zellhaufen. Zellen in den formlosen Händen und Füßen ergaben sich dem subtilen Druck ihrer Nachbarn und starben in Wellen und Gruppen ab. Überraschender- und schockierenderweise tat es weh. Aber dieses Sterben hatte einen Zweck; das Skalpell des Zelltodes formte diese winzigen Hände und Füße aus, trennte einen Finger vom anderen.
Das wachsende Kind hob die neue Hand vors Gesicht. Es war bereits ein Mensch, ein kleiner Junge, dachte Alia. So weit war der Entwicklungsprozess schon fortgeschritten. Seine Finger waren noch nicht mehr als nervenlose Stümpfe und ließen sich nicht bewegen; und in diesem blutigen Dunkel konnte man nichts sehen, selbst wenn das Kind Augen besessen hätte, mit denen es zu sehen vermochte. Und dennoch strengte es sich an, etwas zu erkennen, motiviert von leiser Neugier.
Seiner Neugier, nicht der von Alia.
Diese Vereinigung war anders als das Beobachten. Alia war tief in die Maschinerie des sich formenden Kindeskörpers eingebettet; sie fühlte alles, was das Kind fühlte, teilte jeden vagen Gedanken, jede Empfindung. Irgendwie war sie jedoch auch auf subtile Weise von ihm getrennt und würde es immer sein. Sie war ein Monitor, eine Zuschauerin; sie erlebte alles mit, was das Kind erlebte – und würde das auch während seines ganzen weiteren Lebens tun –, ohne jedoch seinen Willen, seine Entscheidungsfreiheit zu besitzen.
Und da war ein Fehler, ein deplatzierter Ton in dieser großen Sinfonie der Fabrikation und Montage. Etwas stimmte nicht mit dem Herzen, sah sie, es gab eine Stelle, wo die bewusstlose Selbstorganisation schief gegangen war. Nichts war vollkommen; dies war nicht der einzige Makel in dem wachsenden Körper. Vielleicht würde es keine Rolle spielen.
Während sich der Körper
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