Transzendenz
sie Spezialisten darin geworden, Menschen wie Ben Cushman aufzustöbern. Sie sind Raubtiere, sagen die FBI-Leute, die sich von emotionaler Verwundbarkeit ernähren.«
»Ich verstehe trotzdem nicht, was ihn dazu gebracht hat, sich in die Luft zu sprengen«, sagte Tom.
»Ich sage doch, es war die Organisation«, erwiderte John. »Die Vermehrer. Selbstmordterrorismus ist ein Organisations-Phänomen, kein individuelles. So einfach ist das.«
Wenn die Behörden jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit Selbstmordattentätern hatten, so besaßen Organisationen wie die Vermehrer jahrzehntelange Erfahrung darin, ihre Arbeit fortzusetzen, indem sie verwirrte Kinder wie Ben Cushman in Leute verwandelten, die bereit waren, sich für eine Sache umzubringen, von der sie wahrscheinlich ein Jahr zuvor noch nichts gehört hatten.
»Sie saugen dich langsam in sich hinein«, sagte John. »Sie stellen ihr Anliegen als eine edle Sache im Interesse einer Gemeinschaft dar – in diesem Fall all derjenigen, die vom Patronat und anderen globalen Projekten entrechtet und in die Armut getrieben worden sind. Sie drängen dich durch ihre Argumente Schritt für Schritt in immer extremere Positionen. Sie zeigen dir Märtyrer – nichts ist so wirkungsvoll bei der Produktion von Selbstmordattentätern wie frühere Attentäter –, die zu Helden verklärt werden, denen man nacheifern möchte. Und sie loben dich über den grünen Klee, sie machen dich zu einem Teil der Gruppe und bringen dich dazu, eine bestimmte Art von Heldentum anzustreben. Und dann gibst du eine öffentliche Erklärung ab, die aufgezeichnet wird.« Düster sahen wir zu, wie der winzige VR-Cushman mit selbstgewissem Lächeln seine selektiven Bibelzitate von sich gab. »Eigentlich hat Cushman sich schon in diesem Augenblick umgebracht«, sagte John. »Denn nachdem er einmal diese Absichtserklärung aufgenommen hatte, gab es für ihn kein Zurück mehr. Es war tatsächlich leichter für ihn zu sterben, als den Gesichtsverlust zu erleiden, wenn er die Sache nicht durchgezogen hätte.«
»Und das alles hat er getan, während er an dem Projekt arbeitete, das er vernichten wollte«, sagte ich.
John zuckte die Achseln. »VR-Links ermöglichen es, direkt vor der Nase des Feindes mit seinen Brüdern, seinen Lehrern in der Sekte zusammen zu sein. Seltsam, dass hochmoderne Technologie es uns nur leichter macht, einander zu verletzen.«
»Okay«, sagte ich. »Aber was immer die Motivation dieses Jungen gewesen sein mag, er brauchte trotzdem Unterstützung.«
Wie ich vermutet hatte, war es nicht leicht, eine Higgs-Energiekapsel in eine verheerende Bombe zu verwandeln. Cushman hatte ein maßgeschneidertes Virus benutzt, um die schützenden KI-Schichten der Kapsel zu durchbrechen, und selbst dann hatte er noch einen ausgeklügelten Auslösemechanismus benötigt, um das Ding in die Luft gehen zu lassen. Cushman war einer unserer besten Ingenieure gewesen, ein intelligenter Junge, aber er konnte das alles unmöglich selbst zusammenbastelt haben; er musste Hilfe gehabt haben.
John wich meinem Blick aus. Tom schaute unsicher von einem zum anderen.
»Und da kommst du ins Spiel. Stimmt’s, John?«, sagte ich.
Er machte eine Handbewegung. Cushman verschwand, und neue VR-Bilder formten sich. »Auf Teilen der Ausrüstung zur Bombenherstellung, die Cushman in seinem Zimmer in Prudhoe zurückgelassen hatte, fanden sich DNA-Spuren.« Wir sahen Gesichter in dem Display auf der Tischplatte, Gesichter, extrapoliert aus den DNA-Spuren: einen Embryo, ein Baby, ein kleines Kind, einen Jungen, der zum Erwachsenen heranwuchs.
Ich fragte mich, ob auch diese Technologie Morag nach ihrer siebzehnjährigen Abwesenheit verblüffen würde. Es war jetzt möglich, anhand einer DNA-Probe zu berechnen, wie sich das Genom bei einem Erwachsenen – oder in jedem gewünschten Alter – exprimiert hätte. Dadurch konnten die Kriminologen die Gesichter der Opfer oder Täter eines Verbrechens aus der geringsten menschlichen Spur – einem Spuckefleck, einer Hautschuppe unter einem Fingernagel – rekonstruieren.
Ich erkannte schon lange vor dem Ende der Rekonstruktion, wer das war: dieses breite Gesicht, die dunklen, eifrigen Augen, die vorstehenden Zähne.
»Den kenne ich«, sagte Tom. »Ich habe ihn beim Projektstart gesehen.«
Ich auch. Das Bild zeigte Jack Joy.
»Du warst sein Erstkontakt«, sagte John defensiv zu mir. »Nachdem er dich im Flugzeug kennen gelernt hatte, stellte er Nachforschungen über dich an,
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