Transzendenz
bedaure, dass ich zu spät geboren wurde, um deinen berühmtesten Nachfahren kennen zu lernen…«
Dies war also Leropa. Die Unsterbliche sprach wie aus Schatten heraus. Ich wollte sie gar nicht deutlicher sehen.
»Ich verstehe nicht, auf welche Weise ich mit dir spreche«, sagte ich. »Oder mit Alia, wo wir gerade dabei sind. Wir gehören alle zur Transzendenz – oder nicht?«
»Die Transzendenz ist ein Geist, Michael, aber kein menschlicher Geist. Es gibt keinen Grund, weshalb ein Geist nur einen einzigen Bewusstseinspol haben sollte – so wie dein Bewusstseinspol sich wie ein Stäubchen anfühlt, das für immer hinter deinen Augen sitzt.«
Aber, dachte ich unbehaglich, selbst in meiner Zeit ist der Geist nicht so simpel. Vielleicht sind wir drei wie multiple Persönlichkeiten, die sich im Kopf eines Schizophrenen anschreien.
»Vielleicht sind wir auch Symbole«, sagte Leropa. »Wir stehen für bestimmte Aspekte der Transzendenz bei ihrem Versuch, aus dem internen Dilemma um die Erlösung herauszukommen, das Alia so scharfsinnig erkannt hat.«
»In welchem Fall ich wohl nicht realer wäre als eine Figur aus einem platonischen Dialog? Charmant. Was für Aspekte?«
»Ich bin das Zielbewusstsein der Transzendenz. Ihr Wille. Und du, Michael, bist ihr Gewissen. Wir sind hier, um über die Erlösung zu diskutieren.«
Und um zu wissen, was die Erlösung sei, sagte sie, müsse ich wissen, was Liebe sei. Erneut spürte ich eine federleichte Berührung an einem metaphorischen Kinn, einen geisterhaften Finger, der meinen Blick zu neuen Horizonten lenkte.
Durch ihre geschlossene Kosmologie kannte die Transzendenz das Universum als Ganzes, die Gesamtheit von Raum und Zeit, die gesamte menschliche Vergangenheit. Und nun zeigte sie mir diese Vergangenheit. Das gewaltige Porträt blendete mich; ich hätte liebend gern meinen metaphorischen Kopf abgewendet.
Aber ich erkannte grobe Umrisse. Alles entsprang einer tief hinabreichenden Wurzel, der langen Vorgeschichte der Menschheit auf der Erde, einer Wurzel, die sich durch Erscheinungsformen der Hominiden, der Affen und der Tiere emporarbeitete – keine von ihnen minderwertiger als der Mensch, denn jede war perfekt an ihre Umgebung angepasst, aber ihre Intelligenz wuchs beständig. Diese tiefe, dunkle, erdgebundene Pfahlwurzel erreichte ihren höchsten Punkt in meiner Zeit, wie ein Schössling, der aus dem Erdreich hervorbrach. Die spätere Geschichte war ein wirres Laubwerk, das sich übers Antlitz der Galaxis ausbreitete – verknäuelt, fruchtbar, pulsierend, detailreich, vom Aufstieg und Fall von Reichen und ganzen Spezies bis zum einzelnen Erlebnis eines kleinen Kindes, das tausend Lichtjahre von der Erde entfernt im Licht eines blau-weißen Sterns einen Strand entlangwanderte. Erneut sehnte ich mich danach, mich zu erinnern. Allein schon die Tatsache, dass die Menschen so lange überdauern und so weit kommen würden, hätte das Vorstellungsvermögen der meisten Menschen überstiegen, die in meinem eigenen beschränkten und gefährlichen Jahrhundert lebten.
Aber es war eine Saga voller Tragödien. Ich sah die Narben des Krieges und blinder Naturkatastrophen, Myriaden ausgelöschte Menschenleben, so bedeutungslos wie die Nadeln einer brennenden Kiefer.
»Schau dir alles an, Michael Poole«, sagte Leropa. »Schau dir diese Partikel der im Leiden gefangenen Menschheit an. Und die Transzendenz liebt jedes Einzelne von ihnen. Wie kann sich die Transzendenz den unendlichen Möglichkeiten der Zukunft stellen, wenn ihre Vergangenheit mit Blut und Schmerzen verknäuelt ist?«
Es war das Paradoxon eines Gottes, der aus menschlichem Fleisch und Blut geboren wurde. Um volle Bewusstheit zu erreichen, musste die Transzendenz jedes menschliche Bewusstsein in sich aufnehmen, bis in die ferne Vergangenheit. Und das bedeutete, sie musste all diesen Schmerz in sich aufnehmen.
»Sie wird als ein verwundeter Gott geboren werden«, sagte ich. Genau wie Rosa es intuitiv vermutet hatte. Es war ein unvorstellbares Resultat.
Leropa sagte mit seidiger Stimme: »Die Erlösung muss vollendet werden, so oder so. Und wenn Sühne unerreichbar bleibt, wäre es besser, eine Entscheidung zu treffen, die alles vereinfacht.«
Ich wusste, was sie meinte. »Wenn man nicht existiert, kann man nicht leiden.« Die ultimative Einfachheit der Auslöschung.
»Die Reinigung ist greifbar nahe, wenn wir sie beschließen.«
Ich befand mich innerhalb der Transzendenz, und doch war ich die Transzendenz. Für
Weitere Kostenlose Bücher