Transzendenz
es jemals schafft, aus der Savanne in den Wald zurückzutaumeln…«
»Kann man wieder auf den Verstand verzichten«, beendete ich den Satz.
Morag sagte: »Ich glaube, ich verstehe. Vögel geben das Flugvermögen auf, sobald sie sich in Sicherheit befinden, etwa wenn sie zufällig auf eine Insel ohne Raubtiere stoßen. Warum nicht auch die Intelligenz?«
Neugierig wandte ich mich den Robbenmenschen zu, die durch ihr Welt-Meer schnellten und glitten. Ihre glänzenden, seichten Gedanken waren im Bewusstsein der Transzendenz enthalten; ich kostete sie behutsam und schmeckte Zufriedenheit, so köstlich und vergänglich wie das salzige Fleisch eines Fisches. Ja, für diese Nachmenschen war das genug. Für sie hatte das Leben keine Ziele; das Leben war ein Prozess, dessen einziger Sinn darin bestand, genossen zu werden.
»Michael Poole, willst du mir ernsthaft erzählen, dass sie erlöst werden müssen? Wovon?«, fragte Alia.
»Aber ich verstehe immer noch nicht«, erwiderte ich. »Intelligenz ist nicht nur ein Werkzeug. Wissen lohnt sich um seiner selbst willen… oder nicht?«
Morag holte den juwelenartigen Knoten der Weisheit zurück, der die Physik der Transzendenz darstellte. »Schau noch einmal hin.«
Erneut spähte ich in die Masse uralter Weisheit. Doch diesmal lenkten Alia und Morag meinen Blick tief ins Innerste des Juwels hinein – und ich entdeckte einen winzigen, entscheidenden Makel. Für jeden menschlichen oder nachmenschlichen Geist, sogar für den der Transzendenz, gab es Grenzen des Verstehens. Dies war Unvollständigkeit: Keine Mathematik, ein logisches Konstrukt des menschlichen Geistes, konnte jemals absolut in sich geschlossen oder vollständig konsistent sein. Daher konnte man beweisen, dass es Leistungsgrenzen für jeden denkbaren Computer gab.
Ein Geist war im Kern jedoch ein Informationsverarbeitungssystem – deshalb konnte kein Geist, so gewaltig er auch sein mochte, sich selbst jemals vollständig kennen. Nicht einmal die Transzendenz.
»Aha«, sagte Morag, als lernte sie zusammen mit mir. »›Welch besonderes Vorrecht hat diese kleine Bewegung des Gehirns, welche wir Denken nennen, dass wir sie in dieser Weise zum Modell des ganzen Universums machen?‹«
»Von wem ist das?«
»Von David Hume. Er war kein Ingenieur, deshalb hast du wahrscheinlich noch nie von ihm gehört. Finde dich damit ab, Michael. Kein Geist kann sich selbst jemals vollständig kennen – und Geist ist ohnehin nicht der Endzweck des Kosmos. Die Transzendenz kann ihre Ziele niemals erreichen.
Und die Erlösung, diese tollpatschige Do-it-yourself-Reparatur, die sie der menschlichen Geschichte aufzwingen möchte, kann nur in die Katastrophe führen.«
Leropa hatte lange geschwiegen. Nun sagte sie: »Die Transzendenz mag ein mit Fehlern behafteter Gott sein, aber sie kann zumindest eine große Tat vollbringen. Vielleicht können wir das Leid früherer Zeiten niemals sühnen. Aber wir können es wenigstens auslöschen.«
Alia sagte: »Leropa…«
»Es ist Zeit für deine Entscheidung, Michael Poole.«
Die anderen Stimmen, Alia und Morag, verstummten, und ich war allein.
Ich schaute tief in mich hinein.
Konnte es irgendeine denkbare ethische Rechtfertigung für die Reinigung geben? Konnte die Auslöschung des Leidens jemals die Auslöschung des Lebens selbst wert sein? Wenn die große Kauterisation erfolgte, dann würden die Ungeborenen – darunter auch ich – nichts von ihr wissen. Sie würden auch nichts von ihr spüren, ebenso wenig wie von den Schmerzen, die sie vielleicht erlitten hätten. Doch andererseits hätten sie auch keine Chance – keine Chance, sich darüber zu freuen, dass sie am Leben waren, und sei es auch noch so kurz.
»Das Leben kommt zuerst«, sagte ich. »Alles andere ist zweitrangig.« Ja, dachte ich, als ich diese Worte formte; das war richtig.
»Und was wird dann aus der Erlösung?«, fragte Leropa.
Die Transzendenz war wie ein großer Vater, dachte ich, der über das Leben seiner Kinder nachgrübelte – der gesamten Menschheit, in der Zukunft und der Vergangenheit. Und die Transzendenz wollte ihren Kindern Sicherheit schenken und sie glücklich machen, für alle Zeit.
Aber auch ich war ein Vater. Wenn ich die Möglichkeit besessen hätte, Toms Zukunft bei seiner Geburt – oder sogar schon vor seiner Empfängnis – irgendwie zu reparieren, sodass er sein Leben in Sicherheit verbringen konnte – hätte ich es getan? Der Versuch, Ereignisse zu kontrollieren, die
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