Transzendenz
Einige dieser Kataloge beruhten auf viele hunderttausend Jahre alten Vorläufern aus der Zeit, als die gesamte Galaxis ein Kriegsschauplatz gewesen war. Es gab auch andere Perspektiven. Wer nah genug war, um den Stern dieser Welt am Himmel zu sehen, würde ihm einen förmlicheren Namen geben, beispielsweise als Bestandteil eines Sternbilds; vielleicht gab man sogar dem Planeten selbst einen Namen, wenn man ihn zu sehen vermochte. Folglich konnte die Welt ein Dutzend oder auch hundert solche Namen haben, die ihr aus verschiedenen interstellaren Blickwinkeln gegeben worden waren. Aber der oder die Hauptnamen einer Welt stammten von denen, die dort lebten.
Alia schaute auf die endlose Meereslandschaft hinab. »Und wie nennen die Einheimischen nun diese Welt? Nass?«
»Du wirst schon sehen«, sagte er ausweichend.
»Und weshalb gibt es hier kein Land?«
Er lächelte. »Weil das Meer zu tief ist…«
Im Sol-System gab es keine derartige Welt. Sie war größer als die Erde und hatte die sechsfache Masse. Weit entfernt von ihrer Sonne war sie entstanden, so weit draußen, dass deren Wärme nicht ausgereicht hatte, um Wasser und andere flüchtige Stoffe, die sich bei ihrer Entstehung gebildet hatten, verdunsten zu lassen. Als sie abgekühlt war, war ihr ein Gesteinskern von der ungefähren Größe der Erde geblieben, aber dieser innere Kern war von einer Hülle aus Wassereis umgeben.
Lange nach ihrer Entstehung war diese Welt von einem Gasriesen eingefangen worden, den sie seither als Mond umkreiste. So hätte es bleiben können, wenn der jupiterartige Mutterplanet, dessen Umlaufbahn von der verbliebenen Staubwolke beeinträchtigt wurde, aus der er entstanden war, nicht stetig in Richtung seiner Sonne gewandert wäre. Und der Eismond fing an zu schmelzen.
»Schließlich verschwand fast das gesamte Eis – gegenwärtig gibt es nur noch ein paar Inseln an den Polen – und hinterließ einen über hundert Kilometer tiefen Ozean über dem restlichen Eismantel. Das heißt, dieser Ozean ist – äh – zehnmal so tief wie die Erdmeere. Durch eine kleine Ausgasung entstand schließlich die Atmosphäre. Die ersten Wetterphänomene traten auf, und…«
»Und deshalb gibt es kein Land?«
»Wie könnte es trockenes Land geben, Alia? Selbst wenn der Meeresboden aus Gestein bestünde, müsste ein Berg hundert Kilometer hoch sein und über die Wasseroberfläche hinausragen, um eine Insel zu bilden. Auf der Erde kann es keine solchen Berge geben, und hier, wo die Schwerkraft ungefähr fünfzig Prozent über dem Standardwert liegt, schon gar nicht. Und außerdem besteht der Meeresboden aus Eis, nicht aus Gestein.
Wegen des fehlenden Landes war die Entstehung des Lebens von großen Schwierigkeiten geprägt. Trotzdem gibt es hier Leben: Leben, das auf anderen, gastfreundlicheren Welten des Systems entstanden und in Gestalt von Sporen hierher getrieben ist.«
»Panspermie.«
»Ja.« Er nickte anerkennend. »Und dann kamen natürlich die Menschen.«
Menschen?, dachte sie erstaunt. Aber wie konnten sie hier leben?
Reath zeigte nach vorn. »Da ist es endlich. Unser Ziel.«
Mitten im endlosen Ozean trieb ein leuchtend orangefarbener Fleck – ein Rechteck, ein von Menschenhand geschaffenes Gebilde. Alia verspürte eine unsinnige Erleichterung beim Anblick dieses kleinen Stücks menschlicher Technik in der ungeheuren, leeren Weite des Meeres.
Auf den ersten Blick schien die Plattform auf einem dünnen Stängel zu ruhen, der aus dem Ozean ragte. Wie sich herausstellte, war sie jedoch mit Antigravitationshebern ausgestattet, und der »Stängel« war in Wirklichkeit ein Kabel, das im Tiefeneis verankert war und unter Spannung stand, weil die Heber die Plattform unaufhörlich in den Himmel zu ziehen versuchten. Es schien Alia eine billige und schnelle Lösung des Stabilitätsproblems auf einer Wasserwelt zu sein.
Der Flitzer wurde langsamer und tauchte zur Plattform hinab. Alia widerstrebte es, zu skimmen; sie hatte es seit ihrer Abreise von der Nord nicht mehr getan. Deshalb verließen Reath und sie den Flitzer auf die altmodische Weise, durch eine Luke.
Der starke Wind rüttelte Alia durch. Er war kalt auf ihrem Gesicht; seine Temperatur lag nur knapp über dem Gefrierpunkt. Reath wirkte gelassen und ruhig, obwohl er so groß und dünn war, dass es den Anschein hatte, als könnte er jeden Moment weggeweht werden.
Die Luft bestand größtenteils aus Stickstoff und Kohlendioxid – kaum eine Spur von Sauerstoff: Leben war hier
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