Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Transzendenz

Transzendenz

Titel: Transzendenz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Landschaft in die Ferne, und ich hatte ein Gefühl von Raum, von ungeheurer Weite. Dieser Tundrastreifen zwischen dem Meer im Norden und den Wäldern im Süden zog sich um ein Drittel des Pols herum. Aber es war eine Petro-Landschaft, übersät von Ölseen, Pipelines und rostigen Kränen.
    Wegen der Brise glaubte ich, nicht weit entfernt vom Meer zu sein. Als ich den Blick von der Fabrik abwandte, sah ich eine eisengraue Linie, einen Meereshorizont. Das erschien mir durchaus logisch: Ich befand mich auf der Jamal-Halbinsel im Nordwesten von Sibirien, vielleicht fünfhundert Kilometer nordwestlich des Urals. Meinen Nachforschungen zufolge hieß das Nordpolarmeer hier Karasee. Vielleicht sah ich auch den riesigen Golf an der Mündung des Flusses Ob vor mir, eines gewaltigen Wasserwegs, der einen ganzen Kontinent trockenlegte. Näher beim Ufer gab es irgendwelche Aktivitäten; dort standen niedrige Bauwerke, die ich nicht genau erkennen konnte, und Menschen liefen eilig umher. Hatte Tom dort gearbeitet? Ich schämte mich, weil ich es nicht wusste.
    In einer VR-Projektion ist man auf die nähere Umgebung der Transceiver-Drohne beschränkt, die der Service Provider beim gewünschten Ziel abwirft. Möglicherweise war diese Industrieanlage der nächstgelegene Bestimmungsort in der Datenbank des Providers. Die Herstellung der Verbindung hatte sich verzögert, weil meine Drohne so lange gebraucht hatte, um von Moskau hierher zu fliegen. Aber im Innern des Geländes rührte sich nach wie vor nichts. Es war niemand hier, niemand, den ich nach Tom fragen konnte.
    Ich war nicht damit einverstanden gewesen, dass er in einen so instabilen Teil der Welt wie diesen ging, und hatte gehofft, mein frostiges Schweigen werde ihn davon abhalten. Das hatte es nicht getan. Und nun war er infolge meiner Starrköpfigkeit verletzt, irgendwo hier in dieser deprimierenden, ausgelaugten Landschaft, und ich hatte keine Ahnung, welche Verletzungen er davongetragen hatte und wie schlimm sie waren; ich wusste noch nicht einmal, wo er sich befand.
    Dann sah ich, dass einer dieser großen Betonwürfel Schlagseite hatte. Das riesige Gebäude war vielleicht zehn Grad aus der Senkrechten gekippt, und eine hoch aufragende Wand hatte der Belastung nachgegeben und war vom Dach bis zum Boden geborsten. Der Boden am Fuß des schiefen Gebäudes sah aus, als wäre er geschmolzen; er türmte sich in großen, statischen Wellen, wie warme Schokolade. Weiter draußen, sah ich, beulte sich auch die gerade Linie der Pipeline aus. Deshalb verspürte ich also diese leise Übelkeit. Die starke Neigung hatte meinen im VR-Zustand ohnehin schon geschwächten Gleichgewichtssinn durcheinander gebracht. Es war ein seltsamer Anblick, eine surreale Betrunkenheit. Ich stellte mir vor, wie die gesamte Fabrik langsam umsank und verschwand, wie diese riesigen Betonwände barsten und ihren giftigen Inhalt erbrachen, bis die braune Erde sich wie ein freundliches Meer über den Trümmern schloss.
    Ein mit den hellblauen UN-Farben bemalter Hubschrauber ratterte über mich hinweg. Er flog so tief, dass er plötzlich über mir war; ich duckte mich unwillkürlich. Er steuerte auf die Ansiedlung in der Nähe der Küste zu. Ich wandte mich von der Fabrik ab und machte mich ebenfalls auf den Weg dorthin.
    Unterwegs gab es eine kurze Störung im System. Die Szenerie um mich herum fror ein und zerfiel in Blöcke, bevor sie sich neu formierte, und es gab ein paar seltsame Gerüche und Geräusche, ein glockenartiges Klingeln und den scharfen Duft von Zimt oder Mandeln: VR-Synästhesie, Fehler im Programm. Es war eine deutliche Erinnerung daran, dass ich in Wirklichkeit nicht hier war; dies war nur ein Telefonanruf mit Spezialeffekten.
    Ich bin nicht mit immersiven VRs aufgewachsen. Nie konnte ich mich an das matte, verwaschene Gefühl der Immersion oder an die geringfügige Abweichung zwischen dem Bewegungsimpuls und der eigentlichen Bewegung gewöhnen und bildete mir immer ein, ein Jucken ganz oben am Rückgrat zu spüren, wo Daten in mein Nervensystem strömten. Ich durfte mich nur im Schritttempo vorwärts bewegen; so lauteten die Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften des Providers. In der Theorie konnte man wie Superman durch die Gegend fliegen, und manche Leute taten das auch, aber neun von zehn mussten dabei kotzen. Ich hielt mich vorsichtig an die Spielregeln, schien aber ungewöhnlich lange zu brauchen, um diese verwundete Landschaft auf der Suche nach meinem Sohn zu durchqueren.
    Meine

Weitere Kostenlose Bücher