Transzendenz
man es wisse oder nicht, sagte Reath gern, wenn man menschlicher Abstammung sei, gelte man bereits als Bürger des Commonwealth. »Und es steht zu hoffen«, erklärte er, »dass wir alle eines Tages nicht nur ins Commonwealth, sondern auch in die Transzendenz einbezogen sein werden – und dann beginnt eine neue Art menschlicher Geschichte.«
Doch um solche Ziele zu erreichen, müsse die Transzendenz wachsen. Sie müsse neue Mitglieder rekrutieren. So erstaunlich es scheine, die Transzendenz brauche Menschen wie Alia.
Auch wenn Alias letztendliches Ziel kaum vorstellbar sei, werde die Ausbildung in leicht zu bewältigenden Etappen stattfinden, versicherte er ihr. Es gab drei formelle Stufen, die er Implikationen nannte: die Implikation der unbegrenzten Langlebigkeit, der unvermittelten Kommunikation und des emergenten Bewusstseins. Natürlich hatte sie so gut wie keine Ahnung, was irgendeiner dieser Begriffe wirklich bedeutete, wenngleich sie alle Furcht einflößend klangen. Neben den formellen Stufen werde jedoch auch der »Spaß« nicht zu kurz kommen, versprach Reath: vor allem durch Reisen zu exotischen Welten wie dieser.
Alia war nicht glücklich.
Es waren nicht die Entfernungen, die ihr zu schaffen machten. Für einen Skimmer galt Entfernung sowieso als bedeutungslos. Nein, es war nicht die Entfernung, sondern die unentrinnbare Gesellschaft, in der sie sich befand: Ihr einziger Begleiter in diesem schmucklosen, freudlosen Schlauch von einem Schiff war der schweigsame, wachsame Reath.
Reath war im Grunde keine schlechte Gesellschaft. Er ging auf ihre Bedürfnisse ein und tolerierte ihre Launen, und vieles von dem, was er zu sagen hatte, war sogar interessant. Aber sein Gesicht war ausdruckslos und leer, seine Miene so reglos, als wären die Nervenenden gekappt worden. Er war ein wandelndes Emblem der großen Trennung, die sie durchgemacht hatte, ihres Abschieds von der Nord und ihrer ganzen Welt sowie der Tatsache, dass ihre Eltern sie zugunsten eines kleinen Bruders verstoßen hatten, den nicht zu hassen sie sich alle Mühe gab.
Reath hatte ihr jedoch einen großen Gefallen erwiesen. Er hatte ihr erlaubt, ihren Beobachtungstank mitzunehmen.
Nun konnte sie sich nach Lust und Laune Michael Poole widmen. Die elementare, wurmartige Kette von Bildern von Pooles Geburt bis zu seinem Tod war eine schlichte vierdimensionale Repräsentation, ein Index. Sie konnte im Innern des Tanks eine Szene aus seinem Leben ablaufen lassen, wobei Poole, seine Angehörigen und Freunde, Feinde und Fremde wie winzige Schauspieler agierten. Oder sie konnte sie vergrößern und selbst in die Szene eintauchen, eine unsichtbare Zeugin. All das war absolut authentisch, soweit sie wusste, obwohl sie nichts von der eingesetzten Technik verstand: Dies war keine Rekonstruktion, es war wirklich das gesamte, reale Leben von Michael Poole vor fünftausend Jahrhunderten, von der Geburt bis zum Tod, tief eingebettet in die unwiderrufliche Vergangenheit, eingeschlossen in ihrem Tank, jederzeit für sie verfügbar.
Reath erinnerte sie daran, dass es die Pflicht jedes Bürgers war, sein Beobachtungsprogramm weiterzuführen, wie es geheimnisvolle Körperschaften im Innersten des Commonwealth, die er »Erlösungsschulen« nannte, angeordnet hatten. Damit ließ er sie in dem Glauben, dass sie sich nicht nur aus reiner Sentimentalität an Michael Poole klammerte, den Gefährten ihrer Kindheit; es war ja schließlich ihre Pflicht. Vielleicht schonte er ihre Gefühle, und wenn ja, dann war sie dankbar für seine Nachsicht. Aber er nahm das Beobachten tatsächlich sehr ernst, denn er sagte, es spiele ebenso wie das umfassendere Programm der Erlösung, zu dem es gehöre, eine zentrale Rolle in den kühnen Plänen der Transzendenz.
Und so hatte sie im Bauch von Reaths uninspirierendem Schiff lange Stunden im hellen Florida-Licht von Pooles lange zurückliegender Kindheit verbracht. Sie wünschte, sie wäre jetzt dort und könnte statt auf diese triste Wasserwelt auf die funkelnden Meere der Erde schauen.
Viele hundert Kilometer konturloser Ozean zogen unter dem Bug des Flitzers vorbei.
»Reath, wie heißt diese Welt?«
»Namen sind relativ«, sagte Reath. »Sie hängen von der jeweiligen Perspektive ab.«
Jede Welt habe eine Vielzahl von Namen, erklärte er. Das Commonwealth führte offizielle Kataloge, in denen alle Sterne und Planeten, Kometen und Asteroiden, sämtliche Objekte von signifikanter Größe in der Galaxis durchnummeriert waren.
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