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Transzendenz

Transzendenz

Titel: Transzendenz Kostenlos Bücher Online Lesen
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kleiner gemachten, militärisch aussehenden Parkajacke. Er war vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt und arbeitete sich mit der Gabel durch eine offene Dose Babymöhren. Als wir hereinkamen – der verletzte Tom mit seiner Sauerstoffmaske, Sonia in ihrem Raumanzug und ich, ein VR-Geist –, versuchte er sich mit großen Augen an Sonia vorbeizudrängen und wegzulaufen. Tom sprach leise mit ihm. Der Junge antwortete und lief dann hinaus, jedoch nicht ohne einen weiteren erschrockenen Blick auf Sonia und mich zu werfen.
    Tom ließ sich mühsam auf eine der Matratzen sinken. Er krallte die Hand in die Brust, als täte sie ihm weh. Zu meiner nicht geringen Überraschung setzte sich Sonia direkt neben Tom auf die Matratze.
    Ich fragte: »Ihr beiden kennt euch?«
    »Erst seit dem Rülpser«, sagte Tom.
    »Es ist ratsam, dass Tom Schutz bekommt«, sagte Sonia. »Einige der Einheimischen lassen es an den Westlern aus. Selbst an Entwicklungshelfern wie Tom.«
    »Na ja, das muss man verstehen«, sagte Tom. Er keuchte leicht, als hätte er sich plötzlich in einen starken Raucher aus der Zeit der Jahrhundertwende verwandelt; es war ein Lungenrasseln, das man heutzutage nicht mehr hörte. »Die Einheimischen machen eine schwere Zeit durch, Dad. Schon vor der Klimaerwärmung haben die Industrien in der Region alles versaut. Du hast bestimmt die Fabrik ein paar Kilometer von hier gesehen. Schon im letzten Jahrhundert gab es Ölverschmutzungen, die Flüsse sind durch eingeleitete Abwässer umgekippt, der Boden um die Fabriken herum ist geschmolzen…«
    Ich hätte ihn am liebsten angeschrien. »Können wir ausnahmsweise mal über dich reden und nicht über den Zustand des verdammten Planeten?«
    Tom versteifte sich. »Nur deshalb bin ich doch überhaupt hier.«
    Sonia Dameyer beobachtete unseren Wortwechsel mit amüsierter Miene.
    Ich machte einen Rückzieher und versuchte es erneut. »Erzähl mir, was passiert ist.«
    Er holte tief und rasselnd Luft. »Ich habe ein bisschen Gas in die Lunge bekommen.«
    »Gas? Giftgas, Nervengas? Wovon reden wir hier?«
    »Immer mit der Ruhe, Dad…«
    »Kein künstlicher Wirkstoff«, sagte Sonia rasch. »Deswegen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Mr. Poole. Es war kein Terrorismus, keine Absicht, sondern ein Naturereignis. Das Gas war größtenteils Methan mit Kohlendioxidspuren drin.« Sie sah Tom an und zog die Augenbrauen hoch. »Aber Ihr Sohn hat weit mehr als ein bisschen Gas abbekommen. Das wäre nicht passiert, wenn er nicht ins Zentrum der Katastrophe gelaufen wäre, um die Kinder rauszuholen.«
    Das also war seine Heldentat gewesen. Tom wandte den Blick ab. Schon diese lakonische Schilderung brachte ihn in Verlegenheit. Auf einmal wirkte er sehr kindlich.
    »Wer war der Junge eben?«
    »Sein Name ist Yuri. Er ist in einer meiner Klassen, Dad. Ich wohne… habe bei seinen Eltern gewohnt.«
    »Ich wusste gar nicht, dass du Russisch sprichst.«
    Er verdrehte die Augen; Sonia verzog keine Miene. Tom sagte: »Ebenso wenig wie Yuri, Dad. Das war kein Russisch. Dies ist ein großes Land. Die meisten meiner Schüler hier sind Einheimische. Ist ja schließlich auch ihr Ökosystem.«
    »Ökosystem?«, sagte ich. »Du unterrichtest sie in Ökologie?«
    »Ich bringe ihnen bei, es zu retten. Es ist ein Crash-Kurs, Dad. Das Ökosystem hier geht vor die Hunde. Der Permafrost schmilzt.«
    Hier, am nördlichen Rand der Welt, waren die tieferen Schichten des Erdreichs seit der Eiszeit nicht mehr aufgetaut: Es gab eine riesige, an manchen Stellen über einen Kilometer dicke Permafrost-Kappe, und die dünne Schicht Erdreich auf dem Permafrost war die Basis einer stets kargen, aber einzigartigen Ökologie. Flechten, schnell wachsende Gräser und Kräuter gediehen hier und Bäume, die nicht groß werden konnten, weil ihre Wurzeln sich nicht in den gefrorenen Boden zu graben vermochten, und so weiter. Und es gab eine einzigartige Gemeinschaft von Vögeln und Tieren – Lemminge und Füchse, seltene Zugvögel sowie Rentiere, die sich von den Flechten ernährten, und Menschen, die den Rentierherden folgten.
    »Und jetzt«, riet ich, »stirbt alles aus.« Die übliche Geschichte.
    »Der Permafrost taut«, sagte er. »Du bist doch Ingenieur, Dad; du kannst dir vorstellen, was das für Folgen hat. Es ist, als löse sich das Grundgestein auf.«
    Ich dachte an die Gebäude, die im Boden versanken, an die Gruben in der Landschaft. Wenn der Permafrost das trockene Land zusammengehalten hatte, gehörte die

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