Transzendenz
rasche Küstenerosion vielleicht ebenfalls zu den Folgen, überlegte ich.
»Selbst die Flechten sterben«, fuhr Tom fort. »Ohne Flechten keine Rentiere, und ohne die sind die Menschen geliefert.
Noch vor fünfzig Jahren waren sie Jäger und Sammler. Aber jetzt – du hast doch bestimmt gesehen, wie alt die Felle sind, die sie haben. Man verwendet sie immer wieder und schabt sie ab, bis sie papierdünn sind, und dann nimmt man sie noch einmal her. Und selbst das Land bröckelt ihnen unter den Füßen weg.«
Ich hatte schon vor langer Zeit aufgehört, über den prekären Zustand der Welt nachzudenken. Doch als ich nun in Gestalt einer VR-Projektion in dieser schäbigen Lehmhütte saß, dachte ich daran, was nördlich von hier war. Ich erinnerte mich an das Jahr, in dem es geheißen hatte, dass nun auch noch das letzte Eis in der Arktis verschwunden und für die Polarbären und Walrösser, die Robben und Belugas die Nacht der Auslöschung gekommen war. Jenseits dieser Küste gab es jetzt nur noch das Meer bis zum Dach der Welt, und vom All aus gesehen, war der nackte ozeanische Nordpol ein fremdartiger, unheimlicher Anblick.
Und aus diesem Grund war Tom hier, um das Sammeln von Genomproben zu überwachen.
Er hatte einen Rucksack hinter seiner Matratze; aus diesem holte er einen kleinen, schachteiförmigen weißen Apparat von der Größe seines Handtellers. »Du hast doch eine Schwäche für technische Spielereien, stimmt’s, Dad? Hast du so was schon mal gesehen? Sonia, darf ich?« Er drückte den Rand seines Geräts an ihren Handrücken. Es gab einen kleinen Blitz; sie jaulte auf und zuckte ein wenig zusammen. »Verzeihung«, sagte Tom. »Hat ein paar Härchen verbrannt. Nur einen Moment… Da ist es schon.« Er zeigte mir die Rückseite der Schachtel. Das Diagramm, das dort zu sehen war, sagte mir nichts – es war kladistisch, wie ich später erfuhr, ein Stammbaum des Lebens –, aber ich verstand die Worte darunter: Homo sapiens sapiens. »Das ist ein DNA-Sequenzierer, Dad«, sagte Tom. »Sequenziert ein Genom binnen Sekunden.«
Ich staunte kurz. Ich war noch ein Kind gewesen, als man das menschliche Genom um die Jahrhundertwende herum zum ersten Mal sequenziert hatte, und zwar nur summarisch; es war ein großes multinationales Projekt gewesen. Jetzt konnte man das Ganze mit einem Apparat, der wahrscheinlich weniger kostete als dieser VR-Trip, binnen Sekunden erledigen. Wir sind alle an den Fortschritt gewöhnt, aber hin und wieder trifft einen so etwas wie ein Schlag ins Gesicht.
Tom war ausgebildeter Lehrer. Aber der Unterricht hatte sich seit meiner Jugend erheblich verändert. Für jedes akademische Thema gab es voll interaktive VR-Tutoren, die jedem Kind auf dem Planeten kostenlos zur Verfügung standen. Gleichzeitig waren Lehrer aus Fleisch und Blut wie Tom »ausgewildert worden«, wie er sich ausdrückte. Er unterrichtete Kinder, indem er praxisorientierte Programme entwickelte und sie Dinge tun ließ, statt ihnen Vorträge zu halten. So machte man das heute. Tom unterrichtete an einem College in Massachusetts, und er hatte mir einmal stolz dessen Motto gezeigt: »Die einzige Quelle des Wissens ist Erfahrung« – angeblich ein Zitat von Einstein.
Das war auch die Grundlage von Toms hiesiger Arbeit. Er war für ein von den Patronats-Organisationen finanziertes internationales Programm unter dem Obertitel »Bibliothek des Lebens« tätig gewesen. In diesem Rahmen hatte er die Kinder der Einheimischen dazu ausgebildet, die DNA so vieler Lebewesen wie möglich zu sequenzieren: der Menschen ihrer Gemeinschaft, der Pflanzen, Tiere, Fische, ja selbst der Insekten in ihrer Umgebung. All diese sofort analysierten Genomproben wurden in ein riesiges Zentralarchiv überführt.
Umweltschützer hatten lange versucht, bedrohte Arten zu erhalten, ihre Embryos, Samen oder Sporen einzufrieren und aufzubewahren oder zumindest einen Blutstropfen oder ein Stück Blatt oder Rinde zu retten, das später einmal analysiert werden konnte. All das taten sie immer noch, aber mit wachsender Verzweiflung angesichts der schieren Größe einer Biosphäre, die schneller verschwand, als sie kartiert werden konnte, sodass es unmöglich war, mehr als einen Bruchteil davon zu bewahren.
Der rasche Fortschritt der Gensequenzierungstechnologie hatte eine Lösung offeriert. Wenn eine Genprobe dank der neuen Instrumente binnen Minuten mit den umfangreichen zentralen Datenspeichern abgeglichen, mit einem gewaltigen phylogenetischen
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