Transzendenz
Wust blauer Haare. »Gea ist manchmal… äh… eigensinnig. Es gibt einen grundlegenden Widerspruch in ihrem Dasein, der sie quält, glaube ich. Sie ist ja ein Klimamodellierer. Also weiß sie, dass in die Umgebung abgegebene Wärme die Klimaprobleme verschlimmert. Und sie weiß, wenn sie läuft, erzeugt ihre Hardware-Schicht selbst eine Menge Wärme. Seht ihr das Paradoxon? Und darum…«
»… müsst ihr sie überreden, sich zu melden«, sagte Shelley, »und bei der erstbesten Gelegenheit schaltet sie sich wieder ab, weil sie Angst hat, die Probleme zu verschlimmern. Verstehe ich das richtig?« Sie sah mich an, und wir brachen beide in Gelächter aus.
Vander wirkte beleidigt. »Glaubt mir, in den kurzen Phasen, in denen sie online ist, kann sie viel mehr erreichen als die meisten Intelligenzen auf dem Planeten, ob sie nun künstlich sind oder nicht…«
Das Licht an der Wand leuchtete auf.
Vander jubelte und reckte die Faust in die Luft. »Da ist sie!« Er tippte sich ans Ohr.
Shelley fragte: »Ist sie das? Was sagt sie zu Ihnen?«
Er warf mir einen Blick zu. »Ich bin nicht derjenige, mit dem Sie sprechen will. Michael Poole – Sie sind es.« Er schien tatsächlich neidisch zu sein.
Mit einem leisen, horrorfilmreifen Knarren schwang die Tür zu der kleinen, abgeteilten Kabine auf.
22
Reath errichtete ein niedriges Zelt neben seiner Fähre. Servitormaschinen brachten Sitzgelegenheiten und Schalen mit Speisen und Getränken heraus.
Sie saßen im Schatten: Reath, Diener des Commonwealth, die drei Campocs, so gleichmütig und einander ähnlich wie die rätselhaften Statuen, die im Schmutz lagen, Alia und ihre geistig kastrierte Schwester. Alia versuchte, Drea zu füttern, aber die strenge Kontrolle der Campocs ließ es nicht zu.
Und sie sprachen über die Transzendenz der Menschheit.
»Wir alle tun es, wisst ihr«, sagte Bale. »Beobachten. Jeder Mensch im Commonwealth ist ein Beobachter; jedes Kind bekommt ein Thema, einen Menschen aus der Vergangenheit, den es studieren soll. Jeder. So lautet das Gesetz, das Gebot der Transzendenz.«
Das war ein Gemeinplatz. »Und? Was soll das heißen?«
Bale sagte schleppend: »Hast du dich nie gefragt, weshalb die Transzendenz will, dass wir alle in die Vergangenheit schauen?«
Alia sah unsicher zu Reath, der ihren Blick gelassen erwiderte. »Das Studium der Vergangenheit hilft mir, die Gegenwart zu verstehen. Michael Poole hilft mir, mich selbst zu verstehen…«
Denh lachte schallend. »Du glaubst, das Beobachtungsprogramm – die enormen Ausgaben, um jedem Kind in der Galaxis einen Beobachtungstank zur Verfügung stellen zu können – wäre in deinem oder unserem Interesse?«
»Die Transzendenz tut niemals etwas für dich«, erwiderte Seer. »Sie handelt nur in ihrem eigenen Interesse. Daran musst du immer denken.«
Alia runzelte die Stirn. »Na schön. Und warum hat die Transzendenz nun solches Interesse am Beobachten?«
»Weil sie von Trauer gequält wird«, sagte Bale.
Die Transzendenz stehe an einem Wendepunkt ihres Schicksals, erklärten sie Alia. Im Prozess ihrer Entstehung aus einer Gemeinschaft von Menschen habe sie sich bereits weit über die Fähigkeiten und sogar das Vorstellungsvermögen ihrer konstituierenden Mitglieder erhoben. Man glaube, dass dies ein außergewöhnlicher Moment in der Evolution des Lebens sei, weil die Transzendenz den Möglichkeiten einer buchstäblich unbegrenzten Zukunft entgegensehe; sie nehme Unendlichkeit und Ewigkeit vorweg. Bald – in jedem vernünftigen Sinn des Wortes – werde die Transzendenz zu einem Gott werden.
Aber jetzt noch nicht. In diesen letzten kurzen Momenten seien die Transzendenten noch menschlich. Und sie seien nicht zufrieden.
All dies war für Alia eine Abstraktion, eine theologische Angelegenheit. Trotz ihrer Ausbildung durch Reath hatte sie nach wie vor nur eine verschwommene Vorstellung von der Transzendenz. Was konnte ein Gott wollen!…
Die Campocs glaubten es zu wissen.
Die Transzendenz war sich der Ursache ihrer Qualen sehr wohl bewusst. Es war die Vergangenheit. Das Leben der überwiegenden Mehrheit der zahllosen Menschen, die jemals gelebt hatten, war von Schmerz und Furcht beherrscht worden, und das einzige Gute an ihm war seine Kürze gewesen. Doch zugleich war die Vergangenheit die Wurzel, aus welcher der mächtige Baum der Gegenwart gewachsen war. Wie konnte sich die Transzendenz also der Seligkeit einer unbegrenzten Zukunft hingeben, wo ihr Fundament doch mit dem
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