Transzendenz
Blut all ihrer Vorgänger besudelt war, die in Elend gelebt hatten und gestorben waren? Irgendwie musste die Vergangenheit wieder gutgemacht werden, denn sonst ließ sich das Ziel perfekter Transzendenz nicht erreichen; es würde immer einen tief sitzenden Makel unterhalb der glänzenden Oberfläche geben, einen Wurm im Apfel.
Und so wurde im Rahmen großer, von den Erlösungsschulen des Commonwealth durchgeführter Programme jedes Menschenkind zu einem Beobachter gemacht, so wie Alia immer das Leben von Michael Poole studiert hatte. Man bekam eine Figur zugeteilt, einen Lebensfaden aus dem Gobelin der Vergangenheit, perfekt dargestellt mit unvorstellbarer Technologie. Jedes Leben ließ sich auf diese Weise in Erinnerung behalten – nicht nur das der Bedeutenden und Berühmten wie Poole. Das Andenken an jeden von ihnen – jeden Einzelnen – musste bewahrt und in Ehren gehalten werden.
Alia schüttelte den Kopf. »Das habe ich noch nie durchdacht. Die gesamte Vergangenheit zu katalogisieren und jeden zu einem Beobachter zu machen – und jeden zu beobachten…«
Trotz der gespannten Situation lächelte Reath. »Wir Menschen waren schon immer Bürokraten. Und die Transzendenz muss auch in diesem Aspekt unseres Wesens so überragend sein, wie sie es in allem anderen ist!«
Aber es war ein kostspieliges Unterfangen. Obwohl das Erlösungsprogramm alles andere als abgeschlossen war, würde es in all seinen Manifestationen bald einen beträchtlichen Teil des Energiebudgets der Transzendenz und damit der vereinigten Kräfte der Menschheit beanspruchen.
Bale betrachtete sie aufmerksam. »Und das ist es, was uns Sorgen bereitet.« Er stand auf. »Ich will dir etwas zeigen. Komm, wir machen einen Spaziergang zu den Statuen. Deine Schwester ist hier in Sicherheit, das verspreche ich dir.«
Alia warf Reath einen Blick zu. Dieser zuckte die Achseln. Er hatte erneut die Macht über die Geschehnisse verloren. Drea saß einfach nur passiv da. Widerstrebend schob Alia ihren Stuhl nach hinten.
Sie kehrten zu den umgestürzten Statuen zurück. Wieder stand Alia vor jenem monumentalen Gesicht.
Bale trat vor. Er bückte sich, nahm etwas von dem seltsamen bläulichen Sand auf, der sich neben dem Mund der Statue häufte, und scharrte noch ein wenig mehr aus ihrer Augenhöhle. »Weißt du, was das ist, Alia?«
»Sand«, sagte sie kurz angebunden.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Dies hier ist Atem. Und das da sind Tränen.«
Die umgestürzten Gestalten waren mehr als Statuen. Es waren Menschen.
Im Zeitalter der Bifurkation, nach dem Sieg des Triumph-Geschwaders, waren die meisten nachmenschlichen Lebensformen dem ursprünglichen Menschen mehr oder weniger ähnlich gewesen – zum Beispiel die Hochschwerkraftformen der Rostkugel oder die Wassergeschöpfe der Wasserwelt, ja sogar Alia mit ihrem Niedrigschwerkraftkörper. Und nur selten waren die Grenzen der Kohlenstoff-Wasser-Chemie durchbrochen worden.
Aber mancherorts hatten selbst diese grundlegenden Parameter keine Beachtung gefunden.
Obwohl die Silizium-Chemie kein so günstiges Substrat für Leben war wie die Kohlenstoff-Chemie, entstand es an manchen Orten zufällig doch auf dieser Basis, so wie hier auf Baynix II, der Schmutzkugel.
Auf dieser siliziumreichen Welt hatte es einheimische Lebensformen auf Siliziumbasis gegeben, lange bevor Menschen hierher gekommen waren. Und als die Menschen dann eintrafen, beschlossen sie, ihre Kinder ins Silizium herunterzuladen statt in ein Medium der Kohlenstoff-Chemie: Sie hatten sie in diese Statuen verwandelt.
Welch eine seltsame Idee, dachte Alia.
»Silizium ist kein ideales Medium zur Speicherung von Informationen«, sagte Bale. »Kohlenstoffmoleküle eignen sich dazu wesentlich besser. Aber in seiner kristallinen Form kann man komplexe Strukturen aus ihm herstellen und beliebig viele Daten darin speichern. Es gibt Methoden, die Gitterstruktur zu kopieren, sodass Reproduktion möglich ist; es kann abweichende Formen, Mutationen geben – Evolution. Während wir Kohlendioxid ausatmen, würden solche Geschöpfe natürlich Silizium dioxid ausatmen – Sand.«
Alia strich über die riesige sandige Wange der steinernen Gestalt vor ihr. »Das Leben verliefe so schrecklich langsam.«
»O ja«, sagte Bale. »Aber Zeit ist lediglich Wahrnehmung. Wenn man sie über ein Jahrhundert hinweg beobachtet, kann man sehen, wie sie sich im Sand drehen…«
»Weshalb behalten sie die menschliche Gestalt überhaupt noch bei?«
Reath zuckte
Weitere Kostenlose Bücher