Transzendenz
die Achseln. »Aus Sentimentalität? Wir haben uns schließlich mit einer menschlichen Morphologie entwickelt; vielleicht sind wir ihr tiefer verhaftet, als wir ahnen.«
Alia ging um den Kopf der Statue herum. Sie verspürte den starken Drang, nicht ins Blickfeld der riesigen, steinernen Augen zu geraten, obwohl diese sie sicherlich nicht sehen konnten; für einen chthonischen Menschen würde sie eine blitzartige Bewegung sein, etwas, was sofort wieder verschwunden war. »Jetzt weiß ich also, worum es sich bei diesen Statuen handelt. Ich weiß aber immer noch nicht, weshalb ihr mich hierher gebracht habt.«
Bale musterte sie ernst. »Diese Menschen haben ihre Kinder in kriechende Steingeschöpfe verwandelt, in eine Lebensform, die vom Ursprungsmenschen so weit entfernt ist, wie man es sich nur vorstellen kann. Was meinst du, warum sie das getan haben?«
Alia dachte darüber nach. »Weil sie Flüchtlinge waren. Sie mussten sich verstecken.«
»Ja. Und indem sie das Kohlenstoff-Chemie-Substrat aufgaben, machten sie sich praktisch unauffindbar; sie wären nicht einmal bei einer Fernabtastung nach Leben entdeckt worden. Niemand würde damit rechnen, dass sich Menschen in Stein verbergen.«
»Vor wem haben sie sich versteckt?«
»Was glaubst du wohl?«, erwiderte Bale.
»Oh. Vor anderen Menschen.«
Bale berührte die riesige Hand der Statue. »Wir wissen nicht, warum sie geflohen sind. Aber nach all dieser Zeit bleibt die Verzweiflung. Siehst du jetzt, wie viel die Transzendenz zu betrauern hat?«
Ja, dachte Alia. Und selbst wenn man noch so sehr nach Erlösung strebte – selbst wenn jeder Mensch, der von nun an zur Welt kam, sein ganzes Leben mit dem Beobachten verbrächte –, der Schmerz nähme kein Ende: ein bodenloser Abgrund.
Bale betrachtete sie eingehend. »Aha. Jetzt begreifst du, nicht wahr? Die Transzendenz strebt nach einem unerreichbaren Ziel. Das glauben wir zumindest. Ja, wir misstrauen ihr – und wir sind nicht die Einzigen. Immer mehr Ressourcen der Menschheit werden für dieses unsinnige Unterfangen vergeudet. Gibt es keine besseren Einsatzmöglichkeiten für unseren Reichtum und unsere Macht? Und was wird die Transzendenz tun, wenn sich keine vollständige Erlösung erreichen lässt? Wir glauben, dass die Transzendenz auf eine Krise zusteuert, Alia.«
Dieses Gerede schien Reath zu schockieren. »Man darf das nicht auf diese Weise anthropomorphisieren. Denkt daran, die Transzendenz ist nicht menschlich. Sie ist übermenschlich. Und sie verfügt über ein Wissen, das unser begrenztes Verständnis übersteigt. Selbst ihre Trauer ist übermenschlich! Ihr dürft euch nicht einbilden, ihr wärt fähig, sie zu verstehen.«
Bale neigte den Kopf. »Vielleicht hast du Recht. Aber wir fürchten sie. Die Transzendenz hat Auswirkungen auf uns alle, so wie eine Sonne den Planeten beherrscht, der sie umkreist. Und wenn die Sonne instabil wird… Wir wollen Bescheid wissen, Alia. Wir wollen wissen, was die Transzendenz als Nächstes vorhat – und vielleicht können wir darauf sogar ein wenig Einfluss nehmen.«
»Und da kommt Alia ins Spiel, nicht wahr?«, sagte Reath mit schwerer Stimme. »Ihr betrachtet sie als euren Zugang zur Transzendenz.«
Bale breitete die Hände aus. Trotz seiner vierschrötigen, kräftigen Gestalt wirkte er hilflos. »Wir wissen nicht, was wir sonst tun sollen.«
Reath trat vor Alia. Zorn loderte in seinen Augen. »Wenn du eine Transzendentin wirst, Alia, dann nur aus deinen eigenen Motiven, deinen eigenen Wünschen heraus, nicht wegen seinen.«
Alia starrte die beiden an. Ein großer Teil dieser Diskussion – die philosophischen, abstrakten Erwägungen – ging meilenweit über ihren Kopf hinweg. Aber solche theologischen Dispute bedeuteten diesen Männern offenbar sehr viel – genug, um das Leben ihrer Schwester aufs Spiel zu setzen. Also, was sollte sie tun?
Sie schaute Rat suchend nach innen – und sie dachte an Michael Poole, das Objekt ihrer eigenen Beobachtung. Was hätte Poole wohl gedacht, wenn er in diese unsere seltsame Zukunft hätte schauen können? Was hätte er von uns gehalten, von dieser Fixierung auf die Vergangenheit – hätte er uns für verrückt gehalten? Und sie erinnerte sich daran, wie Poole sie aus seiner Beobachtungsbox heraus angesehen hatte, als wäre er sich ihres prüfenden Blicks bewusst gewesen. Vielleicht hatten die Campocs Recht. Vielleicht war mehr am Beobachten und an der Erlösung dran, als man ihr weisgemacht hatte.
Es gab nur
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