Trapez
oder so. Eigentlich wollte es Papa Tony wissen.« Er zögerte und sah so aus, als wolle er noch etwas sagen und fügte dann hinzu: »Okay, dann bis zur nächsten Spielzeit!«
»Wenn sie dich nicht zur Armee einziehen«, sagte Tommy. »Wieso bist du überhaupt noch nicht drin? Hast du Plattfüße oder so?«
Marios Gesicht erstarrte zu Eis. »Oder so. Du stellst zu viele neugierige Fragen!«
»He, reg dich nicht auf«, bat Tommy.
Mario seufzte und zuckte mit den Achseln. »Okay, okay! Pa ss auf, ich muss zurück. Angelo schleicht herum wie ein hungriger Bär. Er hat Angst, dass wir es mit den Reifen nicht bis Kalifornien schaffen.« Seine Hand lag noch immer auf Tommys Schulter. Er berührte kurz die Wölbung des Metallschildchens im Halssaum von Tommys Hemd und murmelte etwas auf Italienisch .
Tommy verstand nur ein paar Worte davon. Dann drehte Mario sich um, hob kurz seine Hand zum Abschied und ging weg.
Beth Zane packte Töpfe und Pfannen in eine Kiste, als Tommy zum Wohnwagen zurückkam. »Komm her und hilf mir hier mit. Wollte Mario irgendwas?«
»Nur auf Wiedersehen sagen bis nächstes Jahr.«
Sie sah ihn aus den Augenwinkeln an. »Ich nehme an«, fing sie an, hielt dann aber inne.
»Mutter, du sprichst doch italienisch.«
»Ein bi ss chen, ja. Das schnappst du auf, wenn du Musik studierst. Nicht sehr viel. Warum?«
Er versuchte, sich an die unbekannten Wörter zu erinnern.
»Tu sei – ich hab’s nicht ganz verstanden – ›fortuna‹.
Und ›sventura‹.«
»Bist du sicher? ›Fortuna‹ heißt Glück und ›sventura‹ – weißt du’s genau? Das heißt Pech, Schwierigkeiten.
Irgendwas über Glück und Pech. Hat er das gesagt? Vielleicht ist das eine Art Sprichwort oder ein alter Spruch.
Aber es ist komisch, dass er dir nichts sagen wollte.«
»Ich glaub’, er hat mir Glück gewünscht und nicht Pech«, sagte Tommy, und er machte schnell mit seiner Arbeit weiter, aber inzwischen hatte er den Satz zusammen. Mario hatte ihn ein paarmal ›Lucky‹ genannt.
Glückskind. Und was er jetzt gesagt hatte, war: Du bist mein Schicksal… wie auch immer. Tommy trug diese Worte bei sich, so wie er die kleine Medaille, die in seinem Hemdkragen steckte, bei sich trug, als einen Talisman, ohne eigentlich zu wissen, warum.
KAPITEL 4
Ein starker Novemberwind wehte die letzten Blätter von den Bäumen, als Tommy langsam von der Schule nach Hause ging. Die Sonne war schon untergegangen und die laublosen Bäume schwankten wie ein schlaffes Netz über ihm.
Das kleine Haus, in dem er und seine Mutter den Winter verbrachten, war innen erleuchtet, weil es schon spät war. Sein Vater wohnte fünfzehn Meilen entfernt im Winterquartier. Tommy hatte nie ganz verstanden, weshalb seine Mutter es ablehnte, dort zu wohnen. Keiner von ihnen sagte etwas darüber. Er sah seinen Vater eigentlich nicht seltener, denn Tom Zane kam fast jeden Tag nach Hause, aber die Entfernung erweckte ein seltsames Gefühl der Trennung, als ob die Welt in zwei Teile geteilt war. Und diese fünfzehn Meilen machten seiner Mutter irgendwie etwas aus. Was, konnte er nicht begreifen, aber es war da, und er hatte schon, bevor er zehn war, herausgefunden, dass er darüber nicht mit seiner Mutter sprechen konnte.
Das Wohnzimmer war leer; Essensgeruch kam aus der Küche. Tommy legte seine Bücher ins Schlafzimmer, setzte sich auf sein Bett und kickte ziellos mit einem Schuh.
Das Zimmer war kahl und nichtssagend, die Möbel waren billig und zeigten die Spuren von vielen vorherigen Mietern. Der nackte Fußboden war gefegt, auf der wei ß gestrichenen Kommode lagen seine Toilettenartikel verstreut. Er hatte dem Zimmer nichts hinzugefügt, außer ein paar Fotografien an den giftgrünen Wänden. Eine davon war ein Großes , glänzendes, signiertes Bild der ›Flying Fortunatis‹, Hauptattraktion beim Zirkus Starr, das Margot Clane ihm vor zwei Jahren gegeben hatte. Sie hatte die Fortunatis vor Jahren gekannt, und unten am Rand stand die Widmung: »In Liebe für Margot von Cleo, Lionel, Jim.« Das zweite Bild, vor Jahren aus einem Magazin ausgeschnitten, war ein verwackeltes, getöntes Foto eines Mannes in Trikothosen, der aus einer Pirouette heraus nach der Trapezstange griff. Es war das einzige Bild, das Tommy je vom großen Barney Parrish hatte finden können, der vor 30 Jahren den dreifachen Salto erfunden hatte. Das dritte war ein Schnappschu ss , den Little Ann mit ihrer Geburtstagskamera aufgenommen hatte. Sie hatte ihm einen Abzug machen
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