Trapez
aufzutreten. In einem Mädchenkostüm. Als ich klein war, habe ich nie darüber nachgedacht, aber dann haben mich ein paar Kinder damit aufgezogen, dass ich Mädchenkleider trug. Ich hatte mich geärgert und versuchte mich zu drücken, weil ich Angst hatte, dass die Leu te glauben würden, ich wär’ eine Tunte.«
»Du? Eine Tunte? Quatsch!« sagte Bobby verwundert.
»Du warst ein Feldwebel in der Armee, nicht? Und du hast danach doch das Mädchenkostüm nicht mehr angezogen, oder?«
»Sicher«, sagte Tommy, »das mu ss te ich. Wir hatten doch Vorstellung. Matt hat es schließlich in meinen Kopf gekriegt, dass man seinen Job machen muss und sich nicht darum kümmern soll, was andere Leute darüber denken.
Oder man muss sich einen anderen Job suchen.« Über die Köpfe der Jungen hinweg lächelte er Mario an.
»Ich glaub’, mir macht es zuviel aus, was die Leute denken«, sagte Bobby. »Ich glaube nicht, dass ich das hätte tun können.«
Carl sagte: »Aber wenn die Leute glauben, dass du ‘ne Tunte bist, spielt das denn keine Rolle? Ich meine, wenn die Leute erst mal glauben, dass du es bist, geben sie dir dann je eine Gelegenheit zu beweisen, dass du es nicht bist? In meiner Schule haben sie viel Wind darum gemacht, sich der Gesellschaft anpassen zu müssen. Gut angepa ss t zu sein. Hängt das nicht sehr davon ab – was die Leute von dir denken? muss man sich nicht – nicht anpassen?«
Mario nickte langsam. »Ja, da ist auch was dran«, sagte er. »Was du im Innern bist, und was die Leute von dir halten und über dich sagen. Ich hab’ keine Antworten dafür, Carl. Vielleicht gibt es keine Antworten. Vielleicht muss jeder das für sich selbst herausfinden und das Beste daraus machen. Ich hatte Glück, weil ich in einer Zirkusfamilie aufgewachsen bin, und wir waren sowieso anders – die Leute dachten, wir wären anders, egal, was wir taten.« Er merkte, dass er abschweifte und kam schnell wieder auf das Thema zurück.
»Vielleicht ist es einfach etwas, was jeder für sich selbst herausfinden mu ss . Wie anders er sein kann und doch noch damit klarkommt. Und wir werden das Problem auch nicht damit lösen, dass wir hier rumstehen und quatschen. Pa ss auf Bobby, ich hab’ über Anmut geredet.
Sieh dir mal einen guten Schwimmer oder einen Tennisspieler an. Du wirst merken, wie sie sich völlig beherrschen. Keine unnötigen Bewegungen, alles kontrolliert und keine Mätzchen auf dem Platz. Warum, glaubst du wohl, ist eine Ente tollpatschig und ein Flamingo so anmutig? Aber wenn du die Ente fliegen siehst, ist sie genauso anmutig wie der Flamingo. Geh in den Zoo und sieh dir die Tiere an. Achte darauf, wie sie sich bewegen.
Pa ss auf…« Er nahm unpersönlich Bobbys Hände und streckte seine Arme zu den Seiten aus. »Du sollst nicht versuchen ach so anmutig zu sein…« Er karikierte die Worte mit hohem Falsett und alle Jungen kicherten. »Ein schlaffes Handgelenk ist nicht anmutig. Was du brauchst ist eine ungebrochene Linie der Kraft. Es ist wie der Flug der Wildgans. Oder sieh dir Flugzeuge an – die stromlinienförmige, aerodynamische Form, dein Körper ist stromlinienförmig. Wenn du das unterbrichst, bekommst du weniger Nutzen, weniger Kraft aus dieser Linie. Und deshalb sieht es schlecht aus.«
Carl überraschte sie, als er sagte: »Genauso wie ich es mal in einem Buch über Architekturund Industriedesign gelesen habe, die Form folgt der Funktion.«
»Stimmt. Stimmt genau. Okay, pa ss auf, wie ich meinen Körper an der Taille gerade halte. Auch wenn ich mich in der Mitte um das Trapez beugen mu ss .« Mario drehte sich um und kletterte die Strickleiter hinauf. Dann schwang er heraus, bewegte sich mit gleichmäßiger Geschmeidigkeit rund um das Trapez, mit fließender Glätte und steinharter Sparsamkeit der Bewegung. Nach ein paar Minuten streckte er seinen Körper über der Trapezstange aus, tauchte pfeilgerade ins Netz und zog den Kopf ein, um in einer sauberen Rolle zu landen. Die Jungen staunten mit offenem Mund. Tommy, der fasziniert zusah – sooft er dies gesehen hatte, war er immer noch verblüfft vor Bewunderung und Neid – hörte Clay neidisch sagen: »Bei dir sieht es so leicht aus, Matt.«
Mario lachte und klopfte ihm auf die Schultern. »Es braucht bloß Übung, Junge. Wenn du hart arbeitest, wirst du eines Tages genauso gut sein. Okay, Jungs, das wär’s für heute. Bis nächste Woche, ja?«
Phil Lasky fragte schüchtern: »Wenn du und Mr. Reeder fliegen, können wir dann bleiben
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