Trapez
in der Familie. Sie behandelten ihn genau wie einen von ihnen, und er verlor schnell seine frühere Unsicherheit. Es war unmöglich, sich wie ein Fremder zu fühlen, wenn Lucia selbstverständlich einen losen Knopf an seinem Mantel annähte, wenn Barbara ihn um Hilfe bei ihren Hausaufgaben bat oder wenn Angelo aus dem Wohnzimmer kam und den anschrie, der auf der Treppe – in diesem Fall traf es Tommy – diesen verdammten Krach machte und ihm drohte, bloß ruhig zu sein, bevor er seinen Hintern versohlt bekäme. Er lernte, der alten Dame zu antworten, ob sie ihn nun Rico, Angelo oder Matthew nannte. Und als er merkte, dass es sie wirklich jedes Mal verwirrte und betrübte, wenn er ›Mrs. di Santalis‹ oder ›Madam‹ sagte, begann er zaghaft, sie Nonna zu nennen, wie Clay und Barbara auch. Niemand schien überrascht zu sein oder es überhaupt zu bemerken.
Er ging regelmäßig zur Schule, war pünktlich und aufmerksam, aber er fand weder dort noch sonst außerhalb der Familie Freunde. Die Santellis hielten zusammen wie ein Clan und schienen sonst niemanden zu brauchen. Barbara hatte ein oder zwei Freundinnen in der Ballettschule, aber sie brachte sie selten mit nach Hause. Sogar Clay, jung wie er war, schien die Gesellschaft seiner Familie der seiner Schulkameraden vorzuziehen. Samstag nachmittags ging Tommy mit Barbara und manchmal mit Clay ins Kino oder ins nahegelegene Schwimmbad. Gelegentlich kamen Johnny und Stella mit, manchmal sogar die älteren – Liss und David, Mario allerdings selten –, und bildeten eine unnahbare Clique junger Leute. Tommy war stolz darauf, wie sie ihn akzeptierten. Er erkannte, wie wenig sie Fremde brauchen oder dulden würden.
Stella hatten sie noch nicht so aufgenommen, noch nicht. Es war natürlich teilweise ihre Schuld. Sie war nicht etwa unfreundlich oder abweisend, sondern einfach nur sehr ruhig, sehr zurückhaltend. Sie sagte kaum etwas, außer man sprach sie direkt an. Tommy hatte sie nie ihre Meinung zu irgendetwas sagen hören. Sie half Lucia beim Kochen, Saubermachen und der Hausarbeit und nahm, ohne zu murren, die verabscheute Pflicht auf sich, die verblichenen, schäbigen Übungstrikots zu flicken.
Zweioder dreimal, we nn Lucia weggegangen war, blieb sie freiwillig bei Davey, damit Liss und David zusammen ausgehen konnten. Tommy dachte, dass sie mehr mit Davey als mit irgendjemand anderem aus dem Haus redete.
Tommy beachtete sie wenig, bis zu dem Tag, als er seine ersten Fänge machte. Mario hatte Stella eine Longe anlegen lassen: einen Ledergürtel, der an zwei Seilen hing, die über Rollen an der Decke liefen und von unten gehalten wurden, damit der Fall des Fliegers aufgefangen werden konnte, falls ein Trick mi ss lang. Tommy war überrascht, als sie ihn um ihre Hüfte legte; Mario hatte nie eine Sicherung benutzt, nicht einmal, wenn er an den schwierigsten, neuen Tricks arbeitete, und er hatte auch Tommy ohne sie trainiert.
»Wozu ist das?«
Mario erklärte kühl, dass einem Flieger, der wisse, wie man fällt, ein Trick mi ss lingen könnte, ohne sich zu verletzen. Aber wenn der Fänger herumfummele und daneben griffe, könnte der Flieger nicht sauber ins Netz fallen.
Er würde wahrscheinlich über den Rand des Netzes hinausschießen , gegen die Wand schlagen oder auf den harten Fußboden fallen. »Deshalb werde ich hier unten sein und sie an den Seilen festhalten. Es ist mir schei ß egal , ob dir was passiert, aber ich will nicht, dass du jemand anders das Genick brichst.«
Das schien Tommy vernünftig zu sein; aber nach ein, zwei Fehlern fand er, dass er Stella problemlos fangen konnte. Es war leicht genug, es kam nur darauf an, mit dem Flieger zum richtigen Zeitpunkt in der Luft zusammenzutreffen. Es war lediglich das Timing. Als Mario sie herunterrief und mit Angelo hinaufging, um an seinen eigenen schwierigeren Tricks zu arbeiten, saß Tommy mit Stella auf dem Boden, und sie unterhielten sich.
Sogar in Barbaras altem Turna nzug, den sie zum Üben angezogen hatte, sah sie hübsch aus. Sie trug einen abgewetzten Männerpullover, locker um ihre Schulter gelegt; das Haar klebte, feucht vom Schweiß , um ihre feingeäderten Schläfen.
Sie war unter dem Zeltdach geboren worden und buchstäblich in der obersten Schublade des Kostümschrankes ihrer Mutter aufgewachsen. Ihre Mutter war Kunstreiterin gewesen, ihr Vater ein Dummer August oder akrobatischer Clown. Ihre Mutter hatte Stella reiten beigebracht, kaum dass sie stehen konnte. Als sie vier Jahre alt
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