Trapez
zweite Mädchen? War das Angelos Frau?«
»Lieber Gott, nein«, sagte Angelo. »Ich war zwölf, als das gemacht wurde.«
Lucia lächelte wehmütig über das Bild, in dem ihre jüngere Gestalt aus der Mitte strahlte, klein und königlich.
Neben ihr stand ein kleines freches Mädchen, bei Joe eingehakt.
»Oh, nein, sie ist keine Santelli, aber wir dachten eine Zeitlang, dass sie Joe heiraten würde.«
»Hab’ ich da meinen Namen gehört?« fragte Joe.
»Ich habe nur gedacht, was wohl passiert wäre, wenn du Cleo geheiratet hättest.«
»Das ist ganz einfach«, sagte Joe und vergrub seine Nase wieder in die Zeitung. »Wir hätten Clay und Barbara nicht.«
»Nein, sie hatte nie Kinder, nicht wahr?« sagte Lucia und sah das Bild stirnrunzelnd an.
Stella fragte: »Aber wer ist sie? Ich bin sicher, dass ich sie schon irgendwo gesehen habe!«
»Kein Zweifel«, sagte Lucia, »sie war ein kleines, talentiertes Mädchen, das in dem Jahr, als ich heiratete, zum Zirkus kam. Sie war eine von Barney Parrishs Schü lerinnen. Und ich hab’ sie ermutigt, fliegen zu lernen.
Und dann, als ich die Nummer verlassen mu ss te, weil Liss unterwegs war« – ihre Hände berührten flüchtig das Ende des Zopfs ihrer Tochter – »ist sie überall für mich eingesprungen. Ein paar Jahre später heiratete sie Jim Fortunati und ging in deren Akt.«
»Cleo Fortunati, natürlich«, sagte Stella ehrfürchtig.
»Ich hab’ nicht gewu ss t, dass sie mal mit den Santellis gearbeitet hat!«
»Sie wirbt nicht gerade damit«, sagte Lucia trocken.
»Aber wir sind verwandt mit den Fortunatis, weißt du.
Meine Mutter war Carla Fortunati. Jim und Lionel sind meine Vettern.«
Liss sagte mit frechem Zwinkern: »Du weißt , dass es immer noch den großen Streit zwischen Fliegern gibt, ob Lu oder Cleo die größte weibliche Luftakrobatin war…«
»Oh, hör auf, Liss«, sagte Lucia ungeduldig. »Die Frage stellt sich einfach nicht!« Ihr Fuß tappte unruhig auf dem Boden. »Als ich die Hauptattraktion war, haben Frauen nicht versucht, die großen Tricks zu machen. Wir sollten hübsch und anmutig aussehen und nicht unsere Muskeln vorführen. Ich hab’ damals mehr Aufmerksamkeit erregt mit meinem doppelten Rückwärtssalto, als Matt heute mit sein em Dreifachen! Wie auch immer –blättere um, Liss, und zeig ihnen die schönen Bilder.«
Sie gehorchte, und Tommy hielt den Atem an. Das Wunder des Farbfilms hatte eine Frau eingefangen, die mit ausgestreckten Armen in vollem Schwung vom Fänger wegscho ss . Goldenes Trikot, dunkle Locken, über ihr ein grüngekleideter gestreckter Körper, der gerade einen Salto vollendet.
Lucia redete rasch, aber in ihren Augen lag ein fernes Lächeln.
»Das war eins der ersten kurzbelichteten Farbfotos, die je gemacht wurden«, erzählte sie ihnen. »Es hat einen internationalen Fotowettbewerb 1936 gewonnen. Es war auf dem Titelbild von ›Life‹. Das ist Jim Fortunati im Fangtrapez, und ich und Joe bei der Passage vollendet.«
Stella platzte heraus: »Oh, hätte ich dich nur sehen können, Lucia!«
Tommy sagte nichts, aber er sah Lucia mit anderen Augen.
Joe sagte warmherzig: »Nur um das klarzustellen: Es gab nie, niemals jemanden wie dich, Lulu. Cleo macht vielleicht alle großen Tricks, aber sie wird nie das sein, was du warst. Du warst eine Luftballerina.«
Lucia lächelte. »Und wenn du bedenkst, dass ich vier Kinder in fünf Jahren hatte …«
Angelo deutete auf die Überschrift des Fotos: »›Traum vom Fliegen‹«, las er. »Der Kerl wu ss te, warum Fliegen so viele Leute anspricht. Der alte Traum vom Fliegen.
Jeder träumt davon, fliegen zu können. Und die fliegenden Trapezakte machen ihre Träume für sie wahr, deshalb gibt es nichts Schöneres auf der Welt, als einen schönen Flieger. Mann oder Frau, sie alle sind so schön.«
Liss sagte mit plötzlicher Heiterkeit: »Weise Worte…«
Angelo zuckte die Achseln, grinste sie an und versuchte es zu überspielen. »Soll ich ihnen die Bilder von dir mit deinen Zahnspangen zeigen, Kleines?« stichelte er, und die Mi ss stimmung verschwand so schnell wie sie gekommen war.
Bald darauf gingen Lucia und Liss mit Stella nach oben, um ihr packen zu helfen. Angelo tat Johnny denselben Gefallen, und die anderen verteilten sich. Tommy, Mario und Barbara saßen vor dem Feuer. Mario knackte Walnüsse in seinen Händen und warf die Schalen ins Feuer. Barbara lag flach auf ihrem Bauch, ihren Kopf auf ihre Hände gestützt, und starrte träumerisch in die
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