Trauerweiden
jedenfalls mit einem »Awwa« weg und zog sie lachend in Richtung Kasse. Kurze Zeit später wurden sie von einem mürrisch dreinblickenden Rumänen in blauer Steppweste in eine der für Lisas Geschmack einen Tick zu offenen Gondeln verfrachtet. Mit einem schnarrenden Geräusch schloss sich die Tür, oder vielmehr das Türchen. Es gab einen gewaltigen Ruck, und die Männer blickten erwartungsvoll und Lisa etwas ängstlich nach oben. »Brauchsch kei Engscht hoowa, Maadle«, lachte Till und tätschelte ihr Knie, was ihm einen bitterbösen Blick von Heiko eintrug. Lisa lächelte gequält und fühlte, wie sie vom Boden abhoben. Deutlich und rasant. Sie blickte nach unten und sah die Prilblumen auf dem Dach des Autoscooterzelts. Hübsch waren sie, nur leider klein, sehr klein, obwohl sie in Wirklichkeit natürlich viel größer waren. Was daran lag, dass sie sich bereits auf gut 40 Metern Höhe befanden – schließlich handelte es sich um das größte Riesenrad Deutschlands, insgesamt 55 Meter hoch, wie Lisa auf der Tafel am Boden gelesen hatte. Zweifelnd betrachtete die Kommissarin die metallenen Gelenke und Schrauben, die melodisch im Abendwind quietschten. »Schön, gell?«, sagte Heiko und gab ihr einen flüchtigen Kuss. »Ach, und gleich wird’s noch viel schöner. Wir haben’s nämlich genau erwischt«, meinte Hassan und sah auf die Uhr. »Was, erwischt?«, fragte Lisa und registrierte nur beiläufig, dass sie sich auf dem höchsten Punkt des Riesenrades befanden und dass es gleich wieder abwärts gehen würde. Und in diesem Moment gingen die Lichter aus. Die Gondel ruckte und blieb stehen. Das ganze Riesenrad stand. »Tja, da müssen wir wohl runterklettern«, meinte Till und wies auf die metallene Leiter, die in gut zwei Metern Entfernung ins Gestänge integriert war. Panik kroch in Lisa hoch, als Hassan mit einer einladenden Handbewegung ein »Ladies first« hinzufügte. Die Kerle lachten schadenfroh, und Lisa sah zu Heiko hin, der ebenfalls ein Grinsen unterdrückte. »Keine Panik«, beruhigte er dann, »ist nichts Schlimmes.« So langsam begann Lisa, diese Option in Betracht zu ziehen, weil ihr nämlich drei Dinge auffielen: Erstens schien niemand aus den anderen Gondeln ihre Bedenken zu teilen, im Gegenteil hatte sich eine gespannte Erwartung über die Menschen gelegt. Und nicht nur hier, auch unten, ganze 55 Meter tiefer, auf dem Festplatz, war alles ruhig. Und nicht nur ruhig, sondern auch dunkel. Alle Lichter waren aus. »Stromausfall?«, vermutete Lisa mit piepsiger Stimme. Heiko deutete statt einer Antwort in eine bestimmte Richtung. Zu dem Hügel mit dem gelb beleuchteten, komischen Haus. »Schau zur Villa«, riet er. »Was … «, begann Lisa, und dann hatte sie die Antwort. Es gab einen lauten Knall und dann explodierte die erste Rakete als goldener Sternenregen. Anschließend folgten mehrere grüne und rote Geschosse, dann silberne, die prasselnd als flirrende Funken zur Erde sanken. Der typische Schießpulvergeruch breitete sich aus, und hellgrauer Nebel hüllte den Himmel ein. Lisa schnupperte. Sie mochte Feuerwerksduft. »Ich hab’s noch nie geschafft, während des Feuerwerks ganz oben zu sein«, meinte nun sogar Till andächtig. Heiko nickte. »Ich au net.« Lisa begann sich zu entspannen und vergaß, dass sie sich so hoch oben befand. Sie lehnte sich an Heiko, der schützend den Arm um sie legte, und kuschelte sich an ihn wie ein kleines Kind an seinen Vater. Und genoss das Feuerwerk. Und dass sie hier mit Heiko saß. Und dass sie in Hohenlohe war, auf dem Fränkischen Volksfest.
Eberhard Waldmüller lauschte in die Dunkelheit hinein. Die gleichmäßigen Atemzüge seiner Frau verrieten ihm, dass sie schlief. Kein Wunder, bei der Dosis Beruhigungsmitteln, die sie intus hatte. Er hatte keine andere Möglichkeit mehr gesehen. Sie war völlig verstört, hatte seit zwei Tagen nicht richtig geschlafen und war total weggetreten. Nun schlief sie einen gnädigen Schlaf. Er tastete im Halbdunkel nach der schmalen Hand seiner Frau. Sie war warm, und das war gut so. Wenn der Herrgott sie ihm auch noch nehmen würde … nicht auszudenken. Wobei es ja nicht der Herrgott gewesen war, der ihm seine Jessica genommen hatte, korrigierte er sich innerlich. Sondern irgendein feiger Schweinehund, der sich nachts an seine Tochter herangepirscht hatte und ihr kaltblütig ein Messer ins Herz gerammt hatte. Das musste ein Monster sein, ein Teufel, jemand, der direkt aus der Hölle kam. Eberhard Waldmüller hoffte
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