Trauerweiden
Riesenrades, die wiederum von unzähligen gelben Glühlampen illuminiert wurden. Von allen Buden drangen die Stimmen der Anpreiser herüber und vermischten sich mit dem Murmeln der Menge zu einem ständigen Lärm. Lisa musterte ungläubig den riesigen Besucherstrom, den sie eigentlich nur dem Münchener Oktoberfest zugetraut hätte. Und einmal mehr bestätigte sich ihre Theorie, dass die Hohenloher eine Subkultur waren. Denen war ihr Volksfest geradezu heilig. Heiko hatte ihr erzählt, dass alle Crailsheimer, die woanders wohnten und die nicht krank oder tot waren, am Volksfest in ihre Heimat zurückkehrten, um dort zu feiern. »Sind sie das?«, fragte Lisa und wies auf Till und einen kleineren jungen Mann mit schwarzen Haaren, der neben dem Hünen herlief, was insgesamt eine etwas groteske Erscheinung abgab. »Ja, Till und Hassan.« Schon hatten die beiden Männer sie entdeckt und kamen auf das Paar zu.
»Hi«, sagte Till.
»Hassan«, stellte sich der kleinere vor, und Lisa registrierte seine enorme Nase und dass er ebenfalls in ein Volksfest-T-Shirt gewandet war.
»Lisa Luft. Ach, bist du Türke?«, fragte sie neugierig. Allzu viele Migranten gab es in Hohenlohe nicht, das war direkt mal eine Sensation.
Hassan schüttelte den Kopf. »Hohenloher. Papa ist Türke. Alevit. Aber ich bin evangelisch.« Lisa unterdrückte ein Grinsen. Ein hohenlohischer Halbtürke namens Hassan. Interessante Kombination.
»Und?«, fragte Till und boxte Heiko in die Seite, woraufhin dieser Schwierigkeiten hatte, sich aufrecht zu halten.
»Ja, recht.«
»Womit fangen wir an?«, fragte Hassan und reckte seine große Nase.
»Fisch?«, schlug Heiko vor.
Eine Viertelstunde später kauten alle vier an einem Schollenfiletweckle. Ja, »Weckle«, denn kein Mensch sagt in Hohenlohe »Brötchen«.
»Gut, gell?«, meinte Hassan zu Lisa.
Die nickte.
»Da scheint der Heiko ja mal eine zu haben, die was im Kopf hat«, lobte er dann. »Bisher hatte er immer so strunzdumme Tussis.«
»Hassan!«, tadelte Heiko und lächelte entschuldigend.
»Stimmt doch aber.«
»Fahren wir Riesenrad?«, fragte Till, um das Thema zu wechseln.
Wie elegant, dachte Lisa und grinste in sich hinein. Das Fischbrötchen schmeckte hervorragend, etwas fettig zwar, aber gut.
»Später«, meinte Hassan und schlug vor, als nächstes eine Wurst zu essen.
»Ist das nicht verboten? Haram?«, fragte Lisa. »Ist doch Schwein.«
Hassan verdrehte die Augen. »Ich bin doch evangelisch, Mädle. Ich bin kein Moslem.«
»Ach so«, erinnerte sich Lisa. »Stimmt ja. Wollt ihr jetzt wirklich noch was essen? Also, ich kann eigentlich nicht mehr.«
Die drei Männer sahen sie verständnislos an, gerade so, als käme sie von einem anderen Planeten.
»Aber dafür sind wir doch hier, oder nicht? Und wir fangen doch gerade erst an. Der Fisch war doch nur die Vorspeise.«
Lisa ergab sich und trottete mit. Die drei Männer stellten sich am Grillstand des Engel-Zeltes an. Wobei von einem Stand eigentlich keine Rede sein konnte, eher von einer Grillfront. Sie wartete etwas abseits, bis sich die anderen ihre Wurst geholt hätten. Doch Heiko hielt zwei Würste in der Hand, als er aus der Schlange wieder auftauchte. Ach was, das war nicht nur eine Wurst. Das da reichte für eine vierköpfige Familie als Mittagessen.
»Was ist das denn?«, meinte Lisa fassungslos und starrte auf das Baguette in Heikos linker Hand, das er ihr begeistert grinsend hinstreckte.
»Ein halber Meter Festwurst«, informierte er sie. Die anderen hatten bereits herzhaft in ihre Halbmeterwürste gebissen. Heiko wedelte weiterhin auffordernd mit dem Baguette, das wohl wirklich 50 Zentimeter lang war. Lisa seufzte. Ihr blieb anscheinend nichts anderes übrig, als den Weck zu nehmen und daran zu knabbern. »Gut, gell?«, sagte Till kauend, und Lisa stimmte zu. Es blieb nicht dabei. Als nächstes vernichteten die Männer eine Portion Schupfnudeln, die sie aus unerfindlichen Gründen »Buawaspitzla« nannten, dann aß Till einen gebratenen Maiskolben und die anderen einen Eisneger. Zu guter Letzt kaufte Heiko noch eine Tüte gebrannter Mandeln und ließ sie kreisen. Lisa hatte bereits nach einer halben Halbmeterwurst kapituliert. Kopfschüttelnd sah sie der Fressorgie zu. Und dann, so gegen viertel neun, schlug Till vor, Riesenrad zu fahren. Zweifelnd blickte Lisa, die durchaus nicht ganz schwindelfrei war, an dem Ding hoch. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie wollte, konnte … nun ja. Heiko wischte ihre Zweifel
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