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Trauerweiden

Trauerweiden

Titel: Trauerweiden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wildis Streng
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inständig, dass der Mörder dereinst auch in der Hölle schmoren würde. Denn nichts anderes verdiente ein solcher Mensch. Er seufzte und sah zum Wecker. 2.43 Uhr. War sowieso egal. Es war alles egal. Die Zeit war zeitlos geworden. Und trotzdem musste es weitergehen. Er trug Verantwortung. Für seine Frau. Und für Claudia. Obwohl Claudia weitgehend ihr eigenes Leben lebte. Sie waren so verschieden, seine Töchter, und er liebte sie beide, hatte sie beide geliebt. Claudia war ernsthaft und verlässlich. Erfolgreich. Die Jessi war lustig und fröhlich gewesen, ein wenig sprunghaft vielleicht, ja, aber das hätte sich noch ausgewachsen, da war er sich ganz sicher, sie war ja erst 26 gewesen. So jung, viel zu jung, um zu sterben. Eltern sollten ihre Kinder nicht überleben müssen, dachte er. Er schüttelte den Kopf, änderte damit aber nichts. Seine Frau bewegte sich im Schlaf und murmelte undeutliche Wortfetzen vor sich hin. Er schloss seinen Griff fester um ihre Hand. Er durfte nicht aufgeben. Er musste weitermachen, wenn schon nicht für sich selbst, dann für sie.

Volksfestmontag, 23. September
    Sie hatte es geahnt. Sie kannte das Wort einfach nicht. Kutteln. Und sie hatte sich dazu verleiten lassen, Kutteln zu bestellen, weil sich das so gehörte, wie Heiko ihr versicherte. Am Volksfestmontag muss man Kutteln essen, einem geheimen Gesetz folgend. Da darf man keinen Salat oder so Zeugs essen. Da müssen es Kutteln sein. Und noch dazu war auch vorgeschrieben, mit wem man zu essen hatte. Nämlich mit den Kollegen. Verwundert hatte Lisa festgestellt, dass am Volksfestmontag alle Betriebe, Kaufhäuser und Läden geschlossen blieben, und dass sich die Belegschaften an jenem Tag im »Zelt« trafen, um Kutteln zu essen. »Ein Proooohsit, ein Proooohsit, der Gemüüüüht-liiiihch---keit, ein Proooohsit ein Proo-ho-sit der Gemüüüüüht-liiiiihch-keit«, sang der Bandleader, vielmehr ein Trachtenmensch, der offenbar einer Blaskapelle, die dasselbe hässliche Outfit wie er trug, vorstand. Und sie saß hier am Tisch mit den engsten Kollegen. Mit Heiko, mit Simon, mit Uwe und sogar mit Schorsch, ihrem Chef. Die anderen Polizisten saßen am Nachbartisch. Inzwischen war auch sie dazu übergegangen, Georg Ullrich in seiner Abwesenheit »Schorsch« zu nennen, obwohl es für sie nicht leicht war, das auszusprechen. Und gerade lachte Schorsch dröhnend über einen unanständigen Witz von Uwe, seine Wampe hob und senkte sich, während eben diese Kutteln serviert wurden. Lisa starrte voller Abscheu, gleichzeitig aber mit einer Art von wissenschaftlichem Interesse auf das, was da in ihrem Teller lag beziehungsweise schwamm. Der Optik nach schien es sich um Bandwurm in brauner Sauce zu handeln. Weiße, wurmartige Stücke mit ausgefransten Rändern tauchten hier und da aus der Brühe auf, es kam Lisa vor, als zuckten sie noch. Sie blickte um sich, um herauszufinden, ob das ein Scherz war, ein schlechter Scherz. Aber voll Entsetzen sah sie, wie ihre Kollegen mit großem Appetit ihre Löffel in das Zeug tauchten, und wie Heiko gerade einen Wurmabschnitt in seinem Mund verschwinden ließ. »Ja, die schauen schon schlimm aus. Aber wenn die gut gemacht sind … und das sind sie …«, ermunterte Schorsch, als er Lisas Zögern bemerkte. Lisa wurde ganz langsam weiß, wandweiß, man konnte dabei zusehen. Sie legte den Löffel, den sie aus Höflichkeit und Opportunismus inzwischen aufgenommen hatte, wieder hin, entschuldigte sich und verschwand aufs Klo.
     
    Eine Viertelstunde später kam sie zurück. Die anderen hatten ihre Teller bereits geleert, und Heiko taxierte mit hungrigen Blicken ihre Portion. Mit einer matten Handbewegung schob sie ihm den Teller zu, und Heiko begann zu essen. Lisa beschloss in diesem Augenblick, ihren Freund nie wieder zu küssen, nie nie wieder, mindestens heute nicht.
     
    Nach dem Essen rauchten Uwe und Heiko, während Simon vorwurfsvoll wedelte und über das Krankheitspotential von Nikotin referierte.
    »Ruhe, Schwoob«, befahl Uwe und blickte drohend.
    »Immer noch ganz der Alte, gell?«, kam es von hinten.
    Uwe drehte sich um und vor ihm stand – Silvia.
    »Hallo … äh … was machsch du denn hier?«, fragte er und wirkte erneut wie ein Siebenjähriger, der zu seiner Mama will.
    »Das Gleiche wie ihr. Kollegenessen. Obwohl, jetzt ist es schon komisch, ohne die Jessi!« Ungefragt setzte sich Silvia an den Tisch.
    »Ach ja, die Ermordete war ja auch bei der Uschi«, erinnerte sich Uwe.
    Silvia nickte.

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