Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
„Familienstreit“ gerufen. Er klingelt an der Haustür – und wird plötzlich aus einem Fenster beschossen.
Beispiel 5: Eine junge Frau mit chronischer Bronchitis geht zum Röntgen. Zwei Stunden später weiß sie, dass sie wahrscheinlich unheilbar an Lungenkrebs erkrankt ist.
Beispiel 6: Ein frisch verheirateter Mann erfährt, dass seine Frau bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.
Beispiel 7: Ein kleiner Junge muss zusehen, wie sein Vater seine Mutter brutal zusammenschlägt und -tritt.
Beispiel 8: Eine Frau tötet ihren Peiniger im Affekt mit mehreren Axthieben.
Alle diese Beispiele haben etwas gemeinsam: Die hier betroffenen Menschen durchleben eine Extremsituation. Eine Situation, auf die sie nicht angemessen vorbereitet sind und die all ihre Bewältigungsmechanismen überfordert. Dies nennen wir in der Psychotraumatologie eine „Überflutung mit aversiven Reizen“.
Diese Situation kann man als Opfer bzw. Betroffene/r erleben, doch auch als Zeuge (Beispiel 7) oder Täterin (Beispiel 8) in Extremsituationen kann man von aversiven, also feindlichen, zunächst unbewältigbar erscheinenden Reizen überflutet werden. Solche Reize können sehr unterschiedlich sein. In den oben genannten Beispielen kann man die aversiven Reize unter anderem so beschreiben:
Beispiel 1: Plötzlich von einem Unbekannten angegriffen und weggeschleift werden.
Beispiel 2: Gepackt werden und eine tödlichen Waffe in der Hand des Gegners sehen.
Beispiel 3: Die „Verwandlung“ des Vaters zum Angreifer wahrnehmen; körperlich unangenehm bis schmerzhaft berührt werden.
Beispiel 4: Das Geschoss sirren hören und erkennen: Das ist eine möglicherweise tödliche Kugel; sie gilt mir; es können noch weitere folgen.
Beispiel 5: Völlig unvorhergesehen die Nachricht erhalten, unheilbar krank zu sein; Röntgenbilder sehen, die den Tumor und seine Metastasen zeigen.
Beispiel 6: Der Gedanke: Die Frau, mit der er sich eine lange Zukunft erträumte, ist tot; sie wird nie wieder nach Hause kommen.
Beispiel 7: Sehen und fühlen, dass der Vater völlig außer Kontrolle ist und die Mutter töten könnte. Ohnmacht, Scham und Verzweiflung darüber, nicht eingreifen zu können.
Beispiel 8: Die Entladung der Wut in den tödlichen Schlägen; sehen, wie der Körper unter den Schlägen zerfällt; Wissen, dass der Mann jetzt tot ist; Gedanken wie: dass er ihr nie wieder etwas tun kann; dass sie dafür viele Jahre ins Gefängnis muss ...
In solchen Situationen, wie in den Beispielen beschrieben, kann niemand „cool“ bleiben. Instinktiv weiß man, dass dies hier eine Situation ist, die das eigene Leben für immer verändern könnte – von jetzt an wird es nie mehr so sein wie zuvor.
Eigentlich hat unser Gehirn, genauer: unser Stammhirn, uns auch für Situationen ausgerüstet, in denen wir mit tödlichen Bedrohungen konfrontiert werden. Denn kaum kommt es zu einer Stressüberflutung, schon reagieren wir – meist gänzlich unbewusst und automatisch – mit einem von zwei Reflexen, die der stammesgeschichtlich älteste Teil unseres Gehirns uns vorschreibt.
Fight or Flight
Fight or Flight nannte der amerikanische Forscher Walter Cannon dieses Phänomen bereits im Jahre 1914: Kämpfe gegen den Stressor an (fight) oder fliehe davor (flight). „Heute wissen wir, dass die von Cannon beschriebenen sympathischen“ (das bedeutet hier: das autonome Nervensystem betreffenden) „Veränderungen in eine stärkere Perfusion der Blutglucose“ (Versorgung mit Blutzucker) „auf Muskeln und lebenswichtige Organe ermöglichen und so den Skelettmuskeln mehr Energie zugeführt wird, was dem Organismus erlaubt, besser zu kämpfen oder vor gefährlichen Situationen zu fliehen.“ So beschreibt die New Yorker Biochemikerin Rachel Yehuda (2001), die zur Neurophysiologie bei Stress besonders viel geforscht hat, diesen sich innerhalb von wenigen Millisekunden ereignenden Vorgang.
In einigen der oben genannten Beispiele könnte diese Reaktion noch dazu führen, dass die betreffende Person erfolgreich ein Trauma verhindert. Wenn es sich bei der Fahrradfahrerin um eine kräftige und wehrhafte Person handelt, könnte es ihr gelingen, den Täter niederzuringen. Wenn sie schnell und geschickt ist, könnte sie es vielleicht schaffen, sich loszureißen und wegzulaufen. Auch der Polizist im Beispiel 4 wird sich automatisch wegducken, noch bevor er überhaupt nachdenken kann – sein Stammhirn wird ihm zuerst eine „Flight“-Reaktion vorschreiben. Falls er aber schon seine Waffe
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