Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
Frauen eher zur automatischen Fluchtreaktion, während Männern durchaus auch im ersten Reagieren eine Option bleibt: Aggression oder Flucht.
Freeze und Fragment
Wenn aber alles nichts hilft – no Fight, no Flight –, dann bleibt dem Gehirn nichts anderes übrig, um der äußersten Bedrohung, nämlich der Auflösung des Selbst, zu entkommen, als: Freeze und Fragment. Diese alliterierenden Anglizismen sind einprägsam und leicht zu erinnern, daher verwende ich sie hier. Und vom Moment der Freeze-Reaktion an ist klar: Jetzt findet für den Menschen das Ereignis als Trauma statt.
Freeze bedeutet wörtlich „Einfrieren“, gemeint ist aber auch eine Lähmungsreaktion. Es ist, als ob das Gehirn sich sagt: Ich bringe den Organismus nicht erfolgreich aus der Situation heraus, und ich kann den aggressiven Reiz nicht äußerlich niederringen – also muss ich genau dies intern tun: Ich mache den aggressiven Reiz unschädlich und erlaube dem Organismus, sich innerlich davon zu distanzieren. Eine Flut von Endorphinen – schmerzbetäubenden körperlichen Opiaten – hilft bei diesem „geistigen Wegtreten“ und der „Neutralisierung“ akuter Todesangst. Auch das Noradrenalin aus der Nebennierenrinde, das zunächst zum „Tunnelblick“ verhilft, kann, wenn viel davon durch den Körper rast, die normalerweise integrative Wahrnehmung blockieren. Der Mensch müsste jetzt eigentlich schreien, um Hilfe rufen, weinend zusammenbrechen – doch oft bedeutet die „Freeze“-Reaktion nichts anderes als eine Entfremdung vom Geschehen. Viele Menschen werden erst deutlich später diese eigentlich normalen Reaktionen bekommen – wenn sie hinterher in Sicherheit sind und ihr gesamtes Hirn wieder „heruntergeschaltet“ ist aus dem Alarmzustand, dann plötzlich schießen ihnen die Tränen in die Augen, sie brechen zusammen, weinen und schreien. Aber die meisten tun es jetzt noch nicht, nicht wenn innerlich erst einmal alles erstarrt.
Dann nämlich kommt das Mittel des Fragmentierens hinzu: Die Erfahrung wird zersplittert, und diese Splitter werden so „weggedrückt“, dass das äußere Ereignis nicht mehr (jedenfalls nicht ohne spätere gezielte Anstrengungen) zusammenhängend wahrgenommen und erinnert werden kann. Der Hannoveraner Psychiater Lutz Besser hat dies einmal so ausgedrückt: „Der Vergleich eines Spiegels, der im Augenblick des traumatischen Stressgipfels zerspringt, macht deutlich, dass die zurückbleibenden Spiegelsplitter nicht mehr erkennen lassen, was passiert ist, sondern nur noch, dass etwas passiert ist.“ (Besser, 2002)
Wie macht unser Gehirn das?
Das Wissen darum ist noch recht neu. Wir verdanken es den neuen bildgebenden Verfahren wie PET-Scans (P ositronen -E missions -T omografie-Bilder), Kernspin (M agnet -R esonanz -T omografie – MRT) und anderen, die es den Forschern ermöglicht haben, dem Gehirn direkt bei der Arbeit zuzusehen. Das heißt, natürlich nicht während der Mensch traumatisiert wird (von daher wissen wir nicht, wie lange die Stressreaktion unter traumatischen Bedingungen anhält – vielleicht Sekunden, vielleicht sogar Tage, siehe Hüther, 2001), aber doch danach, wenn der Mensch sich an Ereignisse, auch traumatische Ereignisse, erinnert.
Man ist also nicht mehr allzu sehr darauf angewiesen zu spekulieren oder vom kranken Gehirn auf das gesunde zu schließen oder durch Autopsie nach dem Tod des Menschen Rückschlüsse auf das Funktionieren seines Gehirns zu Lebzeiten zu ziehen (Metcalfe & Jacobs, 1996). Sondern man kann direkt und unmittelbar beobachten und messen: Wenn dieser äußere Reiz erfolgt, reagiert das Gehirn dieses Menschen so und so. Wenn viele Menschen ähnlich reagieren, scheint es sich um typische Muster zu handeln. Auf diese Weise wurde die Funktionsweise eines stammesgeschichtlich relativ jungen Teils unseres Gehirns – des limbischen Systems – genauer unter die Lupe genommen, denn offenbar ist dieses entscheidend bei der Erstbewältigung und späteren Erinnerung extrem stressreicher Ereignisse beteiligt (u.a. van der Kolk, 1997; Markowitsch et al., 1999; Sapolsky, 1996; Yehuda, 2001).
Wenn es um die Speicherung und Verarbeitung stressreicher Ereignisse geht, stehen uns Menschen nämlich vor allem zwei Systeme zur Verfügung, deren Funktionsweise verschieden ist, die sich aber gegenseitig ergänzen: das Amygdala-System und das Hippocampus-System. Janet Metcalfe von der Columbia University nennt das Amygdala-System das „hot system of memory under stress“
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