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Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)

Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)

Titel: Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michaela Huber
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gezogen hat, wird er vielleicht gleichzeitig – und unter Umständen ebenso „instinkthaft“ – den Aggressor attackieren, indem er seinerseits auf ihn schießt (Fight-Reaktion). Der Junge, der Zeuge der Misshandlung seiner Mutter wird (Beispiel 7), könnte vielleicht weglaufen und Hilfe holen oder sich zwischen die Eltern stellen und den Vater irritieren, beschwichtigen oder abdrängen und damit die Katastrophe verhindern oder mildern. Wer so etwas schafft, wird das Ereignis möglicherweise als stark belastend, wahrscheinlich aber nicht als Trauma speichern.
    Wovon hängt es ab, ob das Gehirn Flucht- oder Kampfreflexe in die Tat umsetzt? Es scheint so zu sein, dass in einer Extremsituation nicht immer „vernünftig“ reagiert wird – etwa bei einer Massenpanik, wenn viele Menschen gleichzeitig aus einer extremen Situation weg- und zu einem Ausgang hinstreben (Flight-Reaktion) und sich gerade dadurch selbst und gegenseitig zusätzlich extrem gefährden, während ein „geordneter Rückzug“ ihnen allen vielleicht das Leben retten könnte. Das Stammhirn aber ist offenbar nicht „vernünftig“. Die Fight-or-Flight-Reaktion ist zunächst überhaupt nicht verbunden mit den Großhirnregionen, in denen der Mensch vernunftgemäß denken kann, sondern es handelt sich um Reflexe aus der Frühgeschichte der Menschen. Wenn Sie beim Spazierengehen einen hohen Busch streifen und ein Zweig oder Insekt sich Ihrem Auge nähert, werden Sie automatisch die Augen schließen und sich evtl. auch wegducken, ohne dass Sie „denken“ können. Genau das ist meistens sinnvoll, denn Ihr Großhirn einzuschalten dauert einfach zu lange: Bis Sie nachgedacht hätten, wäre Ihr Auge verletzt. Als eine ähnliche Reflexhandlung kann man sich die Fight-or-Flight-Reaktion vorstellen.
    Dennoch scheint die Fight-or-Flight-Reaktion auch situations- und personenspezifisch ausgeprägt zu sein. In manchen Situationen – etwa umgeben von Menschen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden, Zeuge oder Opfer von extremem Stress zu sein – können manche Personen (die ohnehin stressresistenteren oder besonneneren Typen) warten, bis sich zusätzlich zum Stammhirn auch ihr „Präfrontaler Cortex“ eingeschaltet hat, also jener Teil des vorderen Großhirns, der Sinneseindrücke einordnen und interpretieren kann und dem Alltagsbewusstsein zuarbeitet. So können sie mit mehr Übersicht planen und entscheiden, ob es eher möglich ist zu fliehen oder den Aggressor niederzuringen (unter Umständen auch, da ihr Sprachzentrum dann wieder arbeitet, mithilfe Außenstehender, die sie zur Hilfe rufen). Umgekehrt werden Menschen, die entweder schon früher traumatisiert wurden oder über generell wenig Impulskontrolle verfügen, in Situationen mit extremem Stress heftiger reagieren (Davidson et al., 1998; Fullerton et al., 2000; McCloskey & Walker, 2000; Resnick et al., 1995).
    Offenbar gibt es, wie in allen Dingen, so auch in einer unmittelbaren Bedrohungssituation eine geschlechtsspezifische Reaktion: Frauen neigen mehr zu Flucht-, Männer mehr zu Kampfreaktionen bei akuter Bedrohung. Um es einmal mit einem Beispiel aus der Welt der Hunde zu erläutern: Beide stammen vom Wolf ab, doch über die Jahrtausende (patriarchaler Herrschaft) sind sie auseinander „gezüchtet“ worden wie Kampfhund und Schoßhund. Ein Kampfhund (falls die männlichen Leser diesen Vergleich erlauben) wird eher angreifen, wenn er eine gefährliche Situation erlebt. Ein Schoßhund (Verzeihung, liebe Leserin) fängt schnell an zu zittern, unterwirft sich („Tu mir nichts, ich bin doch so hilflos“), duckt sich und rennt weg, wenn die Situation unübersichtlich wird. Ausnahmen bestätigen selbstverständlich die Regel. So kenne ich als Hundeliebhaberin auch zartest besaitete Bullterrier; und fragen Sie mal einen Postboten, welche Art Hund er am meisten fürchtet, und er wird so etwas antworten wie: „Die kleinen, gemeinen Wadenbeißer“ ...
    Glücklicherweise für Frauen scheint sich an der geschlechtstypischen Reaktion, nicht zu kämpfen, sondern sich gleich wegzuducken, um Hilfe oder Gnade zu flehen und ansonsten zu versuchen wegzulaufen, einiges zu ändern: Schon so manches Mal musste ein Möchtegern-Vergewaltiger zum Beispiel erkennen, dass die Frau, die er sich zum Opfer ausgesucht hatte, keineswegs nur mit Fluchtreflexen reagierte, sondern in der Lage war, ihn blitzschnell niederzuringen oder auf andere Weise (z. B. mit Reizgas) zu bekämpfen. Dennoch: Tendenziell neigen

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