Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
Umgebung gegenüber, ein raumzeitloses Geschehen, weit entfernt von jeder Sprache, auch wenn sie vielleicht registrieren wird, dass sie wimmert oder bettelt oder schreit oder stöhnt. Doch diese Lautäußerungen werden ihr wie „von ihr abgeschnitten“ vorkommen. Bis das Hippocampus-System wieder „anspringt“ und sie wieder weiß: „Ich war doch eben noch auf dem Rad unterwegs nach Hause. Dieser Mistkerl hat kein Recht, mich anzugreifen. Ob jemand in der Nähe ist?“ und eventuell gezielt wieder handeln und um Hilfe rufen kann – und dann unter Umständen wieder von Angst überwältigt ist, die Amygdala wieder Alarm schlägt, die Mineralocorticoid-Rezeptoren des Hippocampus-Systems „abgefüllt“ sind und das entsprechende System ausfällt – und sie erneut Entfremdungserlebnisse hat, aber auch unter Umständen dieses seltsame Nicht-Wissen um alles, was vorher war und nachher sein wird, und ob die Stimme, die da wimmert, ihre eigene ist ...
Das seltsame Zusammenspiel von Amygdala und Hippocampus unter extremem Stress wirkt sich dabei im Gedächtnissystem so aus, dass über die Amygdala (insbesondere die rechtsseitige Amygdala) vor allem körperliche und emotionale Reaktionen „konditioniert“ werden, während die bewussten Erinnerungen, die vom Hippocampus-System gespeichert werden müssten, teilweise fehlen, und der Rest nur noch aus Einzelbildern und kurzen Sequenzen besteht (Possemeyer, 2002; LeDoux, 1998).
Wege des Schreckens
Der Thalmus (1) leitet eingehende Sinnesreize auf schnellstem Weg an die Amygdala (2) weiter, welche sie in einer bedohlichen Situation als angsterregend bewertet und im archaischen Hirnstamm (3) körperliche Reaktion auslöst. Eine langsamere Route führt vom Thalmus zum – im Kortex (4) verankerten – Bewusstsein, welches die Informationen genauer beurteilt. Sie werden vom Frontallappen (5) und auch vom Hippocampus (6) in bereits vorhandenes Wissen integriert. Für diese rationale Verarbeitung ist vor allem die linke Gehirnhälfte zuständig. Eine zu hohe Aktivität der Amygdala jedoch „überschwemmt“ das Gehirn mit negativen Emotionen und verhindert deren Integration in Gedächtnis und Identität.
Film im Kopf
Werden Menschen mit chronischem PTBS an ihr traumatisches Erlebnis erinnert, erleben sie den Schrecken abermals wie „live“ und sind „sprachlos“ vor Entsetzen. Wie die PET-Aufnahme zeigt, erhöht sich die Durchblutung in der rechten Hemisphäre – besonders in jenen Regionen, die für emotionale Erregung zuständig sind. Dagegen geht die Aktivität der linken Gehirnhälfte, vor allem der Sprachverarbeitung, zurück. Dies könnte für Gefühle von Entpersonalisierung und Irrealität verantwortlich sein – für die Abspaltung des Geschehens vom Bewusstsein (Dissoziation).
In diesem Zusammenhang wird noch einmal deutlich, was die beiden Gedächtnissysteme miteinander verbindet und was sie trennt:
Unter traumatischem Stress
wird das Hippocampus -System (vorübergehend) dysfunktional – die Mineralcorticoid-Rezeptoren des Systems sind bei ansteigendem Stress schnell gesättigt und „schalten sich ab“, körpereigene Morphine lassen den Menschen „geistig wegtreten“, Frontalhirn schaltet sich ab ==> Freeze;
das Amygdala -System feuert weiter und speichert emotionale und körperliche Reaktionen = peritraumatische Dissoziation ==> Fragment.
Das ausschließlich vom Amygdala-System emotional-körperlich und vom Hippocampus-System in einzelnen Bildern und kurzen Sequenzen gespeicherte fragmentarische Material ist Traumamaterial.
Bis sich wieder beide Systeme gemeinsam um die innerpsychische Verarbeitung des Geschehens kümmern können, vergehen Sekunden, unter Umständen aber auch eine sehr viel längere Zeit.
Entwicklungsgeschichtlich ist das Amygdala-System das stressverarbeitende Gedächtnissystem, das als Erstes arbeitet: Gleich von Geburt an steht es zur Verfügung, wenigstens in rudimentärer Form. Das Hippocampus-System dagegen wird erst im Alter zwischen zwei und drei Jahren funktionstüchtig (die Myelinisierung, also die Umhüllung der Nervenfasern dieses Systems mit einer Myelinschicht, wird erst in den ersten Lebensjahren angeregt), und richtig gut arbeitet es erst ab zehn bis zwölf Jahren.
Für stressreiche Ereignisse bedeutet dies: Was das Neugeborene und Kleinkind an Stress erlebt, muss es überwiegend auf dem Amygdala-Niveau speichern. Das biografische Gedächtnis – und damit die Fähigkeit, auf früher Gelerntes in
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