Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
Stresssituationen gezielt zurückzugreifen – wird erst später funktionieren. Und bei manchen, die von früh an unter Dauerstress leben, wird das Hippocampus-System unter Umständen lange Zeit unterentwickelt bleiben, da sich das Gehirn an eine „Feuerwehr-Reaktion“ des Amygdala-Systems offenbar gewöhnen kann; das Gleiche gilt für Zeiten von extemem Stress im Erwachsenenleben, wie etwa Fronteinsätze von Soldaten, Zivilleben unter Kriegsbedingungen oder Dauerstress in gewalttätigen Familien (Bremner et al., 1995; Cahill, 1997; van der Kolk, 1997; Liberzon et al., 1997; Metcalfe& Jacobs, 1996; Sapolsky, 1996; Stein et al., 1997c; Uno et al., 1989; Woolley et al., 1990).
Zusätzlich kann sich auf Dauer ein sogenanntes Kindling-Phänomen einstellen: Die Erregungsschwelle sinkt so, dass die Stressverarbeitungssysteme im limbischen System übermäßig empfindlich werden (Maercker, 1997; Post & Smith, 1995; Post et al., 1997) – ein Prozess, der sich verselbstständigen und auch ohne weitere Traumatisierung eine PTSD verstärken kann.
Das, was das Amygdala-System an „brisantem Material herausfischt“, ist affektiv-physiologisches Traumamaterial, also die heftigen Gefühle und Körperreaktionen. Zum Traumamaterial gehören ebenso solche Bilder, Zeit- und Raum-Koordinaten und andere Sequenzen aus dem Trauma, die vom Hippocampus noch aufgenommen werden konnten. Der Punkt, bei dem sich das Hippocampus-System eines erwachsenen Menschen abschaltet und das Amygdala-System (fast) allein arbeiten muss, dieser Zeitpunkt ist individuell verschieden.
Daher kann es sein, dass ein Polizist, der schon ähnlich lebensbedrohliche Situationen erlebt hat, dessen Coping-(also Bewältigungs-)Strategien eingeübter sind, weniger stark mit Angst reagiert, und auch wenn er vorübergehend „Amygdala-Qualität“ im Erleben spüren wird – z. B. wenn es ihm vorkommt, als geschähe alles in Zeitlupe oder als sei dies eine Szene, die er gerade träumt –, so werden doch sein Hippocampus-System und sein Frontalhirn, durch die Cortisol-Stressbremse wieder ins Spiel gebracht, rasch wieder „anspringen“, und er wieder bewusst koordiniert handlungsfähig sein.
Anders vielleicht die Fahrradfahrerin, wenn sie den Überfall plötzlich und unerwartet erlebt – und sie wird drastischer reagieren, wenn sie bereits „vulnerabel“ ist, also von ihrer genetischen Ausstattung her eher „schreckhafter“ ist bzw. schon vorher traumatisiert wurde: Bereits der erste Schreck wird ihr unter Umständen eine heftige Amygdala-Reaktion „bescheren“ – mit der Folge von Lähmung; dem Eindruck, sich nicht wehren zu können; einem Gefühl, als wäre alles nicht wahr, was da geschieht etc. – und es kann sein, dass ihr Hippocampus-System und ihr Frontalhirn noch ein oder zweimal „anspringen“, aber wenn das Folgende tatsächlich eine Vergewaltigungssituation ist, kann es sein, dass sie fast nur noch auf dem Amygdala-Niveau reagiert und nur wenige blitzartige Sequenzen über den Hippocampus gespeichert werden können, die ihr später, wenn sie an das Ereignis denkt, durch den Kopf schießen können (sogenannte Flashbulb-Memories).
Das, was geschieht, wenn nur noch das Amygdala-System und ganz selten und kurz der Hippocampus, gar nicht mehr aber das Frontalhirn und die Sprachzentren auf das Geschehen reagieren – sowie die unmittelbaren körperlichen und seelischen Reaktionen darauf –, das wird als „primäre“ oder „peritraumatische“ Dissoziation bezeichnet.
Warum auch diese Reaktion sinnvoll ist, ergibt sich unmittelbar aus dem Vergleich zwischen dem Hippocampus-System, das mit dem Gefühl für das eigene Selbst verbunden ist, und der Amygdala, die hoch emotionale Erlebnisqualität (vor allem Todesangst) erkennt und „isolieren“ hilft: Es ist ein Selbst-Schutz.
Kapitel 2:
Wieso hilft Dissoziation, ein Trauma zu überleben?
„Es freut mich, dass ich im Sterben immer wieder erwache. Gleich nach dem Ausbruch des Krieges dreh ich mich um, auf die bessere Seite.“
– Wislawa Szymborska
Eigentlich sollte man denken: Wenn man nicht mehr logisch und zusammenhängend nachdenken kann, ist das doch nur ein Nachteil. Oder? Nicht so in Extremsituationen.
Bei meinen zahlreichen Autobahnfahrten habe ich schon manches Mal schlimme Unfälle gesehen. An einen kann ich mich besonders gut erinnern: Ein Mann lief – offensichtlich in einem von sich selbst „entfremdeten“ Zustand – neben dem Auto auf und ab. Entfremdet deshalb, weil
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