Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung, Teil 1 (German Edition)
er eine klaffende Wunde am Oberschenkel hatte, durch die man bis auf den Knochen sehen konnte. Doch er blieb völlig ruhig, öffnete den Kofferraum, entnahm ihm ein Warndreieck, ging etwa 30 Meter entgegen der Fahrtrichtung den Standstreifen entlang und platzierte das Dreieck vorschriftsmäßig an den Rand der Fahrbahn. Offensichtlich war der Mann einerseits „dissoziiert“, also er nahm nicht adäquat wahr, was los war, in diesem Fall unter anderem seine große Wunde. Andererseits aber half ihm das, in der Schocksituation ruhig zu bleiben und alles zu tun, was man tun muss, um die Unfallsituation abzusichern.
Wenn wir in einem traumatischen Schockzustand sind, reagiert unser autonomes Nervensystem und unser gesamtes Gehirn auf eine krasse Weise. Ziel ist, uns noch oder wieder handlungsfähig zu machen. Der Preis ist ein Entfremdungserleben, in dem wir – durch das Geschehen im Amygdala-System und den weitgehenden Ausfall des Hippocampus, der Sprachzentren und des Frontalhirns (siehe Kapitel 1) – nicht mehr eine raumzeitliche und eine sprachliche Einordnung des aktuellen Geschehens vornehmen können.
Wahrscheinlich wusste der Mann mit der Beinwunde, während er sein Warndreieck aufstellte, nicht mehr, was am selben Morgen gewesen war, wohin er unterwegs war und was er am Abend vorhatte. Sein Alltagsbewusstsein war außer Kraft, er selbst in einem seltsamen dissoziativen Trance-Zustand, der ihm half, sich in der Notsituation nach außen hin „korrekt“ zu verhalten.
Hier ein erster Versuch, den schon häufiger verwendeten Begriff „Dissoziation“ zu definieren – im nächsten Kapitel gehe ich näher auf chronische Dissoziation ein:
Was ist Dissoziation?
Dissoziation ist zunächst ein Alltagsphänomen und damit nichts weiter als das Gegenteil von Assoziation (Ross, 1997). Wir dissoziieren und assoziieren in beinahe jeder Minute unseres Lebens. Dabei fügen wir zusammen (assoziieren) und trennen wieder oder schieben beiseite (dissoziieren), was von bestimmten Instanzen unseres Gehirns als
a) zu unwichtig oder
b) zu brisant
eingeschätzt wird.
Schauen Sie sich bitte beim Lesen einmal um und nehmen Sie Ihre räumliche Umgebung wahr. Da sitzen Sie, lesen das Buch, Sie machen sich Gedanken dabei, Ihr Körper hat eine bestimmte Spannung, Ihr Gefühlshaushalt eine aktuelle Mischung, und alles zusammen geht eine „Assoziation“ in diesem Moment ein. Stellen Sie sich einen Augenblick lang vor, Sie müssten jedes Mal, wenn Sie eines der Details in Zukunft wieder wahrnehmen – Ihre Gefühlssituation, Ihre Körperempfindung, was Sie gerade alles sehen oder hören oder riechen oder schmecken können ... alles zusammen, also gemeinsam wahrnehmen. Wahrscheinlich können Sie sich vorstellen, dass Ihr Informationsverarbeitungssystem Gehirn im Nu überfordert wäre. Was es stattdessen stündlich, minütlich, ja sekündlich macht, ist: Es nimmt etwas zusammenhängend wahr, speichert einen Eindruck davon und trennt dann die einzelnen, als bedeutsam erlebten Elemente wieder voneinander, um sie mit anderen Gedächtnisinhalten zu kombinieren.
Beispiel: Sie sind vor Kurzem Paula, mit der Sie vor Jahren die Schulbank gedrückt haben, überraschenderweise am Urlaubsort in Ägypten begegnet. Natürlich werden Sie sich merken, dass Sie sie dort getroffen haben – aber Sie werden sich auch erinnern, dass Sie sie z. B. aus der Schulzeit kennen. Sie werden Pyramiden und Paula nicht zu einer Einheit verschmelzen, sondern entscheidend wird sein, etwas zu erinnern, das mit anderen Gedächtnisinhalten – manchmal nur über „Eselsbrücken“ – wieder eine neue Assoziation eingehen kann. Ihr Gehirn wird dafür sorgen, dass Pyramide und Paula, die vorübergehend eine Assoziation eingegangen sind, wieder voneinander getrennt und in neuen assoziativen Kontext gestellt werden können. Später kann es sein, dass die alte assoziative Verbindung sogar nur mühsam wiedergefunden wird, etwa beim Erzählen der Urlaubserlebnisse daheim:
„Ägypten war einfach wundervoll – und stellt euch vor, ich habe sogar eine ehemalige Klassenkameradin wiedergetroffen, wie heißt sie noch ...“
Oder beim Ehemaligentreffen: „Mensch, Paula, sogar irgendwo im Ausland haben wir uns gesehen, warte mal, gleich hab ich’s: Wüste, Pyramiden – Ägypten!!“
Die Fähigkeit zur Dissoziation ist also einerseits etwas ganz Alltägliches. Andererseits ist sie, wie wir heute wissen, ein Persönlichkeitsmerkmal, ein trait, wie die
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