Trauma
unablässig rief sie um Hilfe, um Hilfe, ein Mensch sei angeschossen worden.
Ich wollte nach ihr greifen und sie zu Boden ziehen, aber ich hatte nicht die Kraft, um meinen Arm zu heben. Eine schreckliche Schwäche hatte mich überwältigt.
Der tröstliche mentale Nebel, den ich herbeigesehnt hatte, kehrte nun tatsächlich wieder. Außer mir vor Sorge um Lorrie, wollte ich dieses Fluchtmittel nicht mehr, doch Widerstand war unmöglich.
Meine Gedanken woben eine unzusammenhängende Erzählung von verborgenen Türen, Tunnels im Kerzenlicht, toten Gesichtern, Schüssen, Schlangendresseurinnen, Tornados, Clowns … Offenbar wurde ich bald bewusstlos und träumte, denn ich war ein Trapezkünstler geworden, der über das Hochseil ging. Eine lange Stange balancierend, schritt ich vorsichtig und unsicher auf eine Plattform zu, auf der Lorrie wartete.
Als ich mich umblickte, um zu sehen, welche Entfernung ich bereits zurückgelegt hatte, sah ich, dass Punchinello Beezo mich verfolgte. Er trug ebenfalls eine Balancestange, die jedoch an beiden Enden mit einem gemein scharfen Messer versehen war. Er lächelte selbstsicher, und er kam schneller als ich vorwärts. »Ich hätte ein Star werden können, Jimmy Tock«, sagte er. »Ich hätte ein Star werden können.«
Gelegentlich trieb ich aus den Träumen vom Zirkuszelt und aus den Geheimgängen meiner Seele an die Oberfläche und
nahm wahr, dass ich transportiert wurde. Erst saß ich auf einem Tragsessel, dann lag ich angeschnallt in einem wild schaukelnden Rettungswagen.
Als ich erfolglos versuchte, die Augen zu öffnen, sagte ich mir, sie seien einfach durch Staub und Tränen verklebt. Ich wusste, dass das eine Lüge war, aber ich tröstete mich trotzdem damit.
Schließlich sagte jemand: »Das Bein kann nicht gerettet werden. «
Ich wusste nicht, ob es sich um eine Traumgestalt oder um einen echten Arzt handelte, doch ich protestierte mit einer Stimme, die wie meine klang, wenn ich ein Froschkönig gewesen wäre: »Ich brauche beide Beine. Ich bin ein Sturmjäger.«
Danach sank ich ungezählte Klafter tief in einen Abgrund, wo die Träume zu real waren, um Träume zu sein, wo rätselhafte Kolosse mich bewachten, ohne recht sichtbar zu werden, und wo die Luft nach flambierten Kirschtörtchen roch.
23
Sechs Wochen später kam Lorrie Lynn Hicks zum Abendessen.
Sie sah hübscher aus als Pommes à la Sévillane . Noch nie hatte ich bei einer Mahlzeit so wenig Zeit damit verbracht, das Essen auf meinem Teller zu bewundern.
Kerzen in rubinroten, geschliffenen Kristallzylindern warfen weiche, zitternde Muster auf die mit Seidenmoiré bespannten Wände und schimmernde Kreise auf die Kassettendecke aus Mahagoni.
Lorrie überstrahlte das Kerzenlicht.
Beim Appetizer – in Sesamöl gebratene Krabben – sagte mein Vater: »Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, dessen Mutter Schlangen abrichtet.«
»Viele Frauen fangen damit an, weil es sich interessant anhört«, sagte Lorrie, »aber es ist wesentlich schwerer, als sie meinen. Irgendwann geben sie dann auf.«
»Spaß macht es aber sicherlich trotzdem«, sagte meine Mutter.
»Na klar! Schlangen sind toll. Sie bellen nicht, sie zerkratzen keine Möbel, und man hat nie Probleme mit Mäusen im Haus.«
»Außerdem muss man mit ihnen nicht Gassi gehen«, ergänzte meine Mutter.
»Nun ja, wenn man will, kann man es tun, aber dann flippen die Nachbarn aus. Maddy, die Krabben sind einfach fantastisch!«
»Wie verdient man mit der Schlangendressur eigentlich Geld?«, überlegte mein Vater laut.
»Mom hat sich drei Einkommensquellen erschlossen. Zum einen hat sie eine ganze Auswahl von Schlangen, die sie Film-und Fernsehproduktionen zur Verfügung stellt. Eine Weile sind ja in fast jedem Musikvideo Schlangen aufgetreten.«
Meine Mutter war entzückt. »Also vermietet sie die Schlangen! «
»Stündlich, täglich, wöchentlich?«, wollte Dad wissen.
»Normalerweise täglich. Selbst ein Film, in dem massenhaft Schlangen vorkommen, braucht die Tiere meist nur vier, fünf Tage lang.«
»Heutzutage gibt es keine Filme, die nicht von ein paar flotten Schlangen profitieren würden«, bemerkte Oma. »Besonders dieses letzte Ding mit Dustin Hoffman.«
»Leute, die auf Stundenbasis Schlangen vermieten, sind meistens nicht seriös«, sagte Lorrie düster.
Das machte mich neugierig. »Also, ich hab noch nie von einer unseriösen Schlangenvermietung gehört.«
»Ach, solche Leute gibt es durchaus.« Lorrie zog eine Grimasse. »Sind
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