Trauma
Er amüsierte sich großartig, das war klar.
»Milchschlangen haben eigentlich gar keine Milch«, sagte Lorrie, »und Klapperschlangen auch nicht. Was meine Mutter aus ihnen herausmelkt, ist Gift. Sie hält sie knapp hinter dem Kopf fest und massiert die Giftdrüsen. Dadurch spritzt das Gift aus den Zähnen, die bei Klapperschlangen hohl sind, in einen Sammelbecher.«
Weil das Esszimmer für meinen Vater wie ein Tempel ist, stützt er nur selten die Ellbogen auf den Tisch. Nun tat er das und legte das Kinn in die Handfläche, als bereitete er sich auf eine lange Geschichte vor. »Ihre Mutter hat also eine Klapperschlangenranch. «
» Ranch hört sich ein wenig zu großartig an, Rudy, Farm ebenfalls. Es ist eher ein Garten, in dem man nur eine Sorte Gemüse züchtet.«
Meine Großmutter gab ein zufriedenes Rülpsen von sich und fragte: »An wen verkauft sie denn das Gift – an Mörder oder an diese Pygmäen mit den Blasrohren?«
»Man braucht es in der Pharmaindustrie, um Gegengift herzustellen. Außerdem gibt es noch einige andere medizinische Verwendungszwecke.«
»Sie haben noch von einer dritten Einkommensquelle gesprochen«, rief mein Vater in Erinnerung.
»Tja, meine Mutter übertreibt es eben gern ein bisschen«, sagte Lorrie liebevoll. »Deshalb tritt sie auch noch bei Feiern auf. Sie hat eine fantastische Schlangen-Nummer.«
»Wer engagiert den so etwas?«, fragte mein Vater verwundert.
»Wer nicht? «, meinte meine Mutter. Wahrscheinlich dachte sie schon an ihre Silberhochzeit und an Omas Geburtstagsparty.
»Genau«, sagte Lorrie. »Sie tritt bei jeder Art Betriebsfeier auf, zum Beispiel zu Weihnachten oder wenn jemand verabschiedet wird. Aber auch bei Bar-Mizwas oder bei der amerikanischen Bibliothekarsvereinigung. Und so weiter.«
Mom und Dad räumten die Teller ab und trugen Schalen voll Hühnersuppe mit Mais auf, dazu Cheddar-Chips.
»Ich liebe Mais«, sagte Oma, »aber ich bekomme Blähungen davon. Früher war mir das peinlich, aber jetzt bin ich dazu nicht mehr verpflichtet. Die goldenen Jahre sind einfach super!«
Dad brachte wieder einen Trinkspruch aus, diesmal nicht mit Wein, sondern mit seinem ersten Löffel Suppe: »Darauf, dass der Schweinehund das Gericht nicht übers Ohr haut! Hoffentlich sperren sie ihn ein.«
Mit dem Schweinehund war natürlich Punchinello Beezo gemeint. Am folgenden Morgen sollte eine Vorverhandlung stattfinden, um zu bestimmen, ob er psychisch in der Lage war, sich gerichtlich zu verantworten.
Er hatte Lionel Davis, Zinker, Knitter und Byron Metcalf erschossen. Letzterer war der langjährige Vorsitzende des Denkmalschutzvereins gewesen, den er gefoltert hatte, um Einzelheiten über den Zugang zu den Tunnels unter dem Stadtpark zu erfahren.
Bei den Explosionen ums Leben gekommen waren zwei im Gerichtsgebäude tätige Mitarbeiter einer Reinigungsfirma und ein Stadtstreicher, der hinter der Bücherei in den Schätzen eines Müllcontainers gewühlt hatte. Getötet worden war ferner Martha Faye Jeeter, eine betagte Witwe, deren Wohnung sich im Nachbarhaus des Gerichtsgebäudes befunden hatte.
Acht Tote: eine traurige Bilanz, aber angesichts der gewaltigen Zerstörung hätte man Scharen an Opfern vermuten können. Dazu war es nicht gekommen, weil die Explosionen zwei Stockwerke tief in der Erde stattgefunden hatten und weil ein Teil ihrer Wucht durch die unterirdischen Gänge aufgefangen worden war. Die Bibliothek, die Villa und die Bank waren einfach in sich zusammengefallen und in ihre Keller gestürzt, als hätte ein Sprengmeister sie zum Einsturz gebracht.
Auch das Gerichtsgebäude war großteils in sich zusammengefallen, doch sein Glockenturm war aufs Nachbarhaus gestürzt und hatte dem ruhigen Leben von Witwe Jeeter urplötzlich ein gewaltsames Ende beschert.
Auch Witwe Jeeters zwei Katzen waren zermalmt worden. Über diese Gräueltat schienen manche Bürger von Snow Village sich mehr zu empören als über den Verlust an Menschen und architektonischen Werten.
Punchinello hatte bei der Vernehmung sein Bedauern darüber geäußert, dass nicht Hunderte Menschen zu Tode gekommen waren. Bei einer zweiten Chance, hatte er erklärt, würde er zusätzlich Napalm verwenden, um dafür zu sorgen, dass ein Feuersturm das ganze Stadtviertel verwüstete.
Teile der Straße und des Parks waren in Cornelius Snows Geheimgängen versunken. Von einem dieser Trichter war auch mein schönes schwarzes Sportcoupé mit den gelben Rallyestreifen verschlungen
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