Traumfabrik Harvard
an den exklusiven privaten Universitäten Neuenglands konnten ab den 1950er
Jahren langsam auch Juden Ordinarien und drei Jahrzehnte später sogar Präsident werden, was vor dem Zweiten Weltkrieg völlig
undenkbar gewesen wäre.
Die akademische Revolution war allerdings nur das letzte Glied einer ganzen Kette massiver Umwälzungen in der amerikanischen
higher education
. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und beschleunigt ab Mitte des 20. Jahrhunderts gewann sie ganz neue quantitative Dimensionen,
wurde aus einer elitären Nische zur Massenveranstaltung: Besuchten 1900 weniger als 250.000 Studenten ein College, waren es
1940 ungefähr 1,5 Millionen, 1960 3,6 und 1990 knapp 14 Millionen. Hatten 1900 ingesamt nur etwas mehr als 29.000 Studenten
einen Bachelorgrad erworben und nur zwei Prozent einer Alterskohorte einen solchen Hochschulabschluss, lauteten die Vergleichszahlen
für 2005 1,45 Millionen Absolventen und gut 27 Prozent. Hatte eine Hochschule 1870 im Durchschnitt gerade mal 98 Studenten,
zählten private Einrichtungen 1924 schon 755 und öffentliche 2.165. Letztere wuchsen besonders schnell. 1924 hatten lediglich
15 Prozent der privaten Einrichtungen mehr als 1.000 Studenten, aber 60 Prozent der öffentlichen Hochschulen. Bei dieser Relation
blieb es auch in der Folgezeit. In den 1990er Jahren zählten nur fünf Prozent der privaten, aber 42 Prozent der öffentlichen
Hochschulen mehr als 10.000 Studenten, und die 20 größten Hochschulen der USA waren ausnahmlos staatliche Einrichtungen (Goldin/Katz
1999; Geiger 2005).
Nicht nur hinsichtlich der Durchschnittsgröße einzelner Einrichtungen geriet der private Sektor ins Hintertreffen. In den
1940er Jahren verlor er auch seine bis dahin dominierende Rolle im Gesamtspektrum tertiärer Bildung: 1900 hatte lediglich
ein Viertel aller Studenten eine öffentliche Hochschule besucht. In den 1950er Jahren hatte sich das Verhältnis schon ausbalanciert,
nur um nach 1960 in ein klares Übergewicht des staatlichen Sektors zu kippen. Bis heute gibt es in den USA deutlich mehr private
als staatliche Hochschuleinrichtungen. Aber letztere sind deutlich größer: 2005 stellten sie nur etwa 40 Prozent aller postsekundaren
Bildungseinrichtungen |70| , an denen aber drei Viertel der knapp 17,5 Millionen Studenten eingeschrieben waren (
Chronicle
2007; NCES 2006). Man muss sich allerdings davor hüten, daraus auf eine bestimmte Aufgabenteilung zwischen öffentlichen und
privaten Hochschulen zu schließen. Unter letzteren tummeln sich nämlich neben hoch selektiven, exklusiven Einrichtungen Hunderte
von zweitklassigen Nischenanbietern und konfessionellen Hochschulen sowie immer mehr
for-profit-
Einrichtungen. Auch der staatliche Sektor ist wesentlich bunter, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Nichts
wäre verkehrter als anzunehmen, dass er nur aus langweiligen, freudlosen und verarmten Massenbildungsstätten besteht, an denen
nur studiert, wer es nicht an eine gute private Uni geschafft hat.
Wie aber lässt sich dieser unaufhaltsame Aufstieg staatlicher Hochschulen erklären, wenn die private Bildung in den USA doch
auf eine so lange und sehr erfolgreiche Tradition zurückblicken kann? Der Grund dafür liegt in einem komplexen Zusammenspiel
verschiedener
push-
und
pull
-Faktoren. Etliche private Hochschulen hatten sich einer
mission
verschrieben, die den Anforderungen der industriellen Welt und ihrer zunehmend durchrationalisierten Lebensführung wenig angemessen
schien und die ihren Reiz langsam aber sicher einbüßte. Viele sprachen gezielt nur eine bestimmte Gruppe an, waren religiös
geprägt oder verfolgten sektiererische Anliegen. In ihrem Portfolio spielten Natur- und Gesellschaftswissenschaften eine nur
geringe Rolle, und Ingenieurwissenschaften tauchten darin so gut wie gar nicht auf. So bunt, beweglich und vielfältig der
private Sektor auch sein mochte, so begrenzt blieb die Reichweite vieler seiner Einrichtungen. Staatliche Hochschulen konnten
dagegen mit einem doppelten Pfund wuchern: Weil sie in der Absicht errichtet worden waren, der Wohlfahrt des Gemeinwesens
zu dienen, Bürgern und Unternehmen von Nutzen zu sein, deckten sie neben den
liberal arts
meist auch ein breites Spektrum der Realwissenschaften wie Agronomie, Wirtschaft und Technik ab. Auch die Naturwissenschaften
erhielten in ihnen bald einen festen Platz, so dass sie günstige Ausgangsbedingungen für die fortschreitende
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