Traumfabrik Harvard
»thinking abilities« (Brint 2002)
und die Selbstsicherheit zu erwerben, die sie später für jede Art beruflicher Tätigkeit jenseits des Fließbandes brauchen
werden |145| . Hedge-Fund-Manager oder Grundschullehrer, Regierungsangestellte oder Immobilienmakler müssen nicht mit Aristoteles und Kant,
Einsteins Relativitätstheorie und den Gedanken der
founding fathers
vertraut sein, um einen guten Job zu machen. Aber im Mutterland des hemdsärmeligen Kapitalismus scheint man davon auszugehen,
dass Bildung, Entdeckungslust und Beharrlichkeit dafür nicht etwa schädlich sind, sondern im Gegenteil einen Mehrwert bieten.
So kann die »Association of American Colleges and Universities«, in der sich mehr als 1.150 Hochschulen verschiedenster Couleur
zusammengefunden haben, ohne jede Ironie mit folgendem knackigen Slogan für ihre Kampagne zur Stärkung der
liberal education
werben: »Liberal Education and America’s Promise: Excellence for Everyone as a Nation Goes to College.« Auf die bange Frage,
was
liberal education
heute noch heißen könne, weiß sie sofort die freudige Botschaft zu verkünden, sie sei »global and pluralistic. […] A philosophy
of education that empowers individuals, liberates the mind from ignorance, and cultivates social responsibility.« 62
Wie wir gesehen haben, hatte diese Philosophie im Elite-Segment seit jeher einen festen Platz. Sie drückt sich nicht nur in
Curricula aus, die den Studenten ein bestimmtes Pensum allgemeinbildender Kurse auferlegen, sondern auch in deren Studienfachwahl,
in der Schwerpunkte aus den
arts
and sciences
dominieren
.
Im Yale College zum Beispiel sind Geschichte, Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre schon seit vielen Jahren die großen
Hits. In Kunst sowie in den Programmen »Ethics, Politics, and Economics« (EPE), »Theater Studies« und »Film Studies« übersteigt
die Nachfrage die Zahl der verfügbaren Plätze um ein Mehrfaches. In anderen Top-Colleges, insbesondere öffentlichen Forschungsuniversitäten,
kommen die Naturwissenschaften etwas stärker zum Zuge. »Super students«, die im mathematischen Teil des SAT deutlich besser
abschneiden als im verbalen, gehen denn auch lieber dorthin als an eine der privaten
ivy leagues
(Geiger 2002)
.
Für die obligate
general
oder auch
liberal education
gibt es kein Normmodell, aber viele
best practices
– und ein gemeinsames Ziel: Die Studenten neben der nötigen »discipline« auch mir einer ausreichenden »furniture of mind«
zu versehen – mit anderen Worten »well rounded personalities« aus ihnen zu machen (Keohane 2001). Auf die kritische Frage
nach dem »wie denn?« gibt es im Prinzip drei verschiedene Antworten. Die beiden Extreme markieren Brown und Columbia, zwei
ivy leagues.
Mit ihrem »New Curriculum« von 1969 erteilte Brown dem Kerncurriculum eine klare Absage |146| . Hier haben
undergraduates
seither die freie Wahl, welche Veranstaltungen sie in ihren vier Studienjahren absolvieren wollen; am Ende müssen sie acht
bis zehn (von insgesamt 38) »class credits« im Schwerpunktfach ihrer Wahl erworben haben. Dafür, dass sie nicht ihr ganzes
Pulver in einem verschießen, sorgen die Mentoren, mit denen sie ihre Studienpläne und -erfahrungen besprechen. Für freie Geister
ist Brown erste Wahl – und davon gibt es offenbar sehr viele. 2003 bis 2006 war die Hochschule für Studienbewerber im Elite-Spektrum
besonders »hip«, so dass die Zulassungsrate in den Keller fiel. Das andere Extrem auf der Möglichkeitsskala besetzen die University
of Chicago und die Columbia University mit einem festen »core curriculum«. Seit 1919 haben es alle Studenten des Columbia
College durchlaufen. Es folgt im Wesentlichen »great books« aus Philosophie, Literatur und politischer Theorie, aber auch
Kunstwerke und Musikerlebnisse nehmen in ihm einen großen Raum ein. Neben den überall verlangten Fremdsprachen und »writing
requirements« müssen alle Studenten in Columbia vor ihrer
graduation
Kurse in Philosophie, Literatur, einer Naturwissenschaft, Musik und Kunst absolvieren, die sich jeweils über ein ganzes Studienjahr
erstrecken.
Die meisten Colleges liegen irgendwo in der Mitte zwischen totaler Freiheit und Pflichtkursen. In der Regel müssen Studenten
für das Examen eine bestimmte Zahl von Veranstaltungen und
credits
außerhalb ihrer
majors
nachweisen – etwa zehn bis zwölf von insgesamt 40 bis 46. Dafür haben sie meistens die Wahl innerhalb
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