Traumfabrik Harvard
Lehrjahre des |150| Gefühls, schmiedet lebenslange Freundschaften und erfährt hautnah, was Gruppendynamik heißen kann. Jedes Haus hat sein eigenes
Logo und seine eigenen Farben, seine Insassen kultivieren Wir-Gefühle und wetteifern mit denen der anderen, die selbstversändlich
lange nicht so gut sind wie das eigene. »Work hard, party hard« – diesem Motto folgen aber fast alle Studenten, so dass Dozenten
gut beraten sind, Seminare und Vorlesungen nicht zu so unchristlichen Zeiten wie 10 Uhr morgens oder gar noch früher abzuhalten.
Nicht zuletzt wegen dieser brisanten Durchmischung verschiedener Erfahrungsräume im »on-campus-living« konnten sich amerikanische
Elite-Hochschulen lange nicht mit dem Gedanken an Koedukation befreunden. Bis vor wenigen Jahrzehnten verwehrten sie jungen
Frauen die Aufnahme in ihr
undergraduate college
, so dass diese keine andere Wahl hatten, als ein Frauencollege zu besuchen.
Graduate
und
professional education
waren schon lange koedukativ – aber dort gab es eben auch keine
residential colleges
oder andere Wohnheimarten als potenzielle Problemzonen. Bestand eine Residenzpflicht für Collegestudenten auf dem Campus,
musste frau draußen bleiben. Erst 1969 öffneten Georgetown, Princeton und Yale ihre Tore für weibliche
undergraduates
, während die Columbia University sogar bis 1983 brauchte, um sich dazu durchzuringen.
Zu den interessantesten Aspekten des
residential college
gehört dessen informelles Curriculum. Hier findet jenes »Bonding« statt, das in Deutschland einfach nicht klappen will: Wenn
sich amerikanische Studenten so stark mir ihrer Hochschule identifizieren und Alumni generöse Spender werden, dann trägt das
»on-campus-living« dazu einen großen Teil bei. Das
residential college
macht aus der Hochschule als Zweckverband eine
community
, in deren »collective system« (Parsons/Platt 1973: 191f.) die Studenten fest eingeschweißt werden. Rituale wie das alljährlich
veranstaltete »homecoming«, zu dem selbst hoch betagte Alumni freudig von weit her angereist kommen, wiederholen diese Bindungen
immer wieder von Neuem. Auf die im College geknüpften Netzwerke ist immer und überall Verlass. Von daher klingt es einleuchtend,
wenn Joseph Ben-David das
residential college
und andere Formen des aktiven »living-on-campus« als einen Spiegel zentraler »beliefs and purposes« der amerikanischen Gesellschaft
deutet: Durch die Gruppenaktivitäten und den akademischen oder sportlichen Wettstreit mit anderen Colleges würden die Studenten
lernen, »ruthless competitiveness and personal loyalty to one’s team or coworkers« so nahtlos miteinander |151| zu verbinden, wie es in der Geschäftswelt der USA geschätzt und erwartet werde (Ben-David 1977: 85).
Genau dazu passt das dritte Charakteristikum der
undergraduate experience
: »Service« steht bei den Colleges hoch im Kurs. Das gilt für ein breites Spektrum von Diensten und Hilfestellungen, die sie
ihren Studenten bieten und ihre Studienprogramme bereichern. Es gilt in mindestens derselben Weise für die Erwartung, dass
alle Studenten einen Dienst für die Gemeinschaft erbringen sollten – wo, wann und wie bleibt ihnen überlassen. Natürlich sind
das zwei Paar Stiefel. Denn während das Serviceangebot für Studenten zu den Leistungen des College zählt, handelt es sich
bei dem
service
der Studenten um eine persönliche Dienstleistung, durch die sie ihre
citizenship
und ihren Gemeinschaftssinn unter Beweis stellen. Aber indem es in beiden Fällen um hohe Erwartungen und Ansprüche geht, hängen
beide irgendwie miteinander zusammen und verweisen aufeinander. So ergab eine Analyse der Rhetorik von
mission statements
amerikanischer Hochschulen, dass darin über alle Typen und Segmente hinweg kein Element ähnlich oft auftauchte wie
service
, gefolgt von einem Bekenntnis zu den
liberal arts
(Morphew/Hartley 2006).
Zu den Serviceangeboten der Hochschulen gehören an erster Stelle vielfältige Sport- und Kulturangebote sowie ein dichtes Netz
von »career services«. Neben einer breiten Facette verschiedenster Teamsportarten, die oft semiprofessionell betrieben werden
und für die viele Hochschulen sogar gezielt Studienbewerber rekrutieren, bieten fast alle Colleges opulente Möglichkeiten
zu individueller sportlicher Betätigung und selbst organisierten Gruppensport – riesige Turnhallen, Krafträume, Schwimmbäder,
Ruder- und Segelanlagen, Tennisplätze und verschiedene
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