Traumfabrik Harvard
breit gezogener Pflichtbereiche.
Wie locker oder engmaschig solche »distributional requirements« gestrickt sind, variiert von College zu College. Alle verlangen
inzwischen mindestens ein »writing seminar« sowie Kurspakete in einer Fremdsprache, deren Umfang sich an den individuellen
Vorkenntnissen der Studenten bemisst. Princeton und Yale, aber auch viele weniger hoch angesehene Hochschulen verlangen darüber
hinaus einen beziehungsweise zwei Kurse, die den Umgang mit Zahlen (»quantitative reasoning«) einüben sollen. Damit hören
die Gemeinsamkeiten aber schon auf. Schreibt Princeton seinen Studenten sehr konkret Kurse in »Epistemology and Cognition«,
»Ethical Thought and Moral Values« sowie »Historical Analysis« vor, verlangt Yale von den seinigen lediglich jeweils zwei
Leistungsnachweise in den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften, ohne genauere Vorgaben zu den Fächern oder gar einzelnen
Veranstaltungen zu machen. Die Duke University wiederum verortet ihre Anforderungen im Bereich der
general education
seit 2000 in |147| einer Matrix von fünf thematisch und sechs methodisch definierten Feldern, aus der ihre Studenten zwischen zwölf und 14 abdecken
müssen.
Als Harvard Anfang 2003 daran ging, sein College-Curriculum einer gründlichen Revision zu unterziehen, erwartete man davon
ähnlich einschneidende Neuerungen wie in den beiden Malen zuvor – dem berühmten »Blue Book« von 1945, das ein modernes Kerncurriculum 63 eingeführt hatte, und dessen Überarbeitung 1978. Beide Reformwerke wurden für die
undergraduate education
in den USA sehr bedeutend, weil sie vielen anderen Hochschulen als Bezugspunkt dienten. Doch 2008 hatte Harvard immer noch
kein neues Curriculum. Der mit großem Schwung gestartete Reformzug ist ins Stocken geraten und sitzt im Minenfeld unterschiedlicher
politischer und fachlicher Interessen fest. Ein erster Bericht zur künftigen Ausgestaltung der
general education
, den eine hochkarätig besetzte Kommission im Herbst 2005 zur Diskussion stellte, stieß auf so viel Vorbehalte, dass es erst
gar nicht zu einer förmlichen Abstimmung über die Empfehlungen kam. Ein zweiter Anlauf endete Anfang 2007 mit demselben Ergebnis.
Dabei ist völlig unstrittig, dass Studenten des Harvard College auch künftig ein großes Pensum von Veranstaltungen ableisten
sollen, in denen Schlüsselkompetenzen in schriftlicher und mündlicher Kommunikation sowie analytisches Denkvermögen eine stärkere
Beachtung finden sollten als im alten Curriculum. Konsens besteht ferner auch darüber, dass möglichst alle
undergraduates
einmal im Ausland studieren sollten, die naturwissenschaftlichen Kurse anspruchsvoller werden und interdisziplinäre, problemorientierte
Veranstaltungen eine größere Rolle spielen müssten (
Chronicle
, 28.4.2004; 5.10.2006; 7.9.2007). Aber um die genaue curriculare Umsetzung dieser Vorstellungen tobt noch immer ein erbitterter
Streit. Dabei geht es auch um Fragen wie die, ob künftig Veranstaltungen zu »religious faith« und zur amerikanischen Geschichte
obligatorisch werden sollen, wie es eine Gruppe konservativer Professoren vorschlug, und ob nicht noch mehr geisteswissenschaftlicher
Ballast abgeworfen werden soll, wie es manche Vertreter der Naturwissenschaften fordern.
Am Clinch um das Harvard-Curriculum lässt sich das Dilemma der
general
education
im amerikanischen College gut studieren. Einerseits gehört sie unweigerlich zu dessen Textur. Anderseits ähnelt ihre praktische
Ausgestaltung immer mehr der Quadratur des Kreises. Prangern manche Beobachter den Trend zu beliebigem »fast food« als Verfall
an (Lewis 2006), findet das kanonische »great books«-Modell kaum noch Zustimmung. Über Kerninhalte besteht kein Konsens, und
eine pragmatische Einigung |148| fällt zunehmend schwerer. Frisst die zunehmende Differenzierung und kulturelle Heterogenität der amerikanischen Gesellschaft
diesen Eckpfeiler der
undergraduate experience
also immer weiter auf? Das wäre ein falscher oder zumindest voreiliger Schluss. Im Augenblick wird der Bedarf an einem »common
ground«, wie ihn die Collegeerziehung legen soll, gerade deswegen sehr dringlich artikuliert. Wo und wie man ihn finden kann,
bleibt abzuwarten. Ein Ende der Schlacht ist noch längst nicht in Sicht – aber ein klammheimlicher, resignierender Übergang
zum schlichten Ziel einer bestmöglichen
employability
von Studenten mehr als
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