Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traumfänger

Traumfänger

Titel: Traumfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlo Morgan
Vom Netzwerk:
schon seit mindestens fünfzigtausend Jahren bevölkern. Es ist wirklich erstaunlich, daß sie in diesen fünfzigtausend Jahren keine Wälder vernichtet, kein Wasser vergiftet und keine Pflanzen oder Tiere ausgerottet haben. Und obwohl sie sich keinerlei Umweltsünden zuschulden kommen haben lassen, haben sie immer über ausreichend Nahrung und Obdach verfügt. Sie haben viel gelacht und nur selten geweint. Ihre Leben sind lang, ausgefüllt und gesund, und wenn sie diese Welt verlassen, tun sie dies mit Zuversicht in ihren Seelen.

18 • Traumfänger
    Als wir uns eines Morgens wie gewohnt zu unserem nach Osten offenen Halbkreis zusammenfanden, lag bereits ein Gefühl von Erregung in der Luft. Nur ein kleiner Farbstreifen am Horizont ließ ahnen, daß die Morgendämmerung unmittelbar bevorstand. Die Seelenfrau trat in die Mitte und löste den Ältesten ab, der gerade das Morgengebet gesprochen hatte.
    Die Seelenfrau und ich waren uns rein äußerlich sehr ähnlich. Sie war die einzige Frau in diesem Ureinwohner-Stamm, die mehr als einhundertzwanzig Pfund wog. Ich wußte, daß mich die täglichen Wanderungen bei großer Hitze und die eine Mahlzeit am Tag kontinuierlich Gewicht verlieren ließen. Allerdings gab es in meinem Körper auch genügend überschüssiges Fettgewebe, so daß ich mir gern vorstellte, wie das Fett buchstäblich abschmolz und kleine Lachen neben meinen Fußabdrücken im Sand bildete. Jetzt stand die Seelenfrau im Zentrum unseres Halbkreises.
    Sie hielt die Arme über ihren Kopf gestreckt und bot den unsichtbaren Zuhörern im Universum ihre Talente an. An diesem Tag bot sie der Göttlichen Einheit ihre Person als Ausdrucksmittel an, und dafür öffnete sie sich jetzt. Ihre besondere Gabe wollte sie auf dieser Wanderung mit mir, der »Veränderten«, teilen. Nachdem sie ihre Bitte vorgetragen hatte, dankte sie laut und voller Inbrunst. Die anderen Stammesangehörigen fielen mit ein und bedankten sich lautstark für die noch ausstehenden Gaben dieses Tages. Sie sagten mir, daß dies normalerweise in völliger Stille geschehe, weil sie von der Kopf-zu-Kopf-Verständigung Gebrauch machten. Da ich ihr Gast und auf dem Gebiet des Empfangs von telepathischen Nachrichten immer noch ein Neuling war, agierten sie so, daß auch ich mit meinen beschränkten Fähigkeiten teilhaben konnte.
    An diesem Tag wanderten wir bis zum späten Nachmittag. Unterwegs war nur sehr wenig Vegetation zu sehen. Für mich war es allerdings eine Erleichterung, einmal nicht von Spinifex-Dornen in meinen Fußsohlen gequält zu werden.
    Als am späten Nachmittag jemand eine kleine Gruppe Zwergbäume entdeckte, wurde das allgemeine Schweigen gebrochen. Es waren eigenartige Gewächse, Stämme, aus deren oberen Enden riesige Büsche zu sprießen schienen. Dies war es, worum die Seelenfrau gebeten und worauf sie gewartet hatte.
    Als wir am vorangegangenen Abend am Feuer saßen, hatte sie eine glatte Tierhaut so umnäht, daß eine Art fester Rahmen entstanden war. Drei andere Frauen hatten es ihr gleichgetan. Heute hatten sie den ganzen Tag über die fertigen Objekte bei sich getragen. Ich hatte nicht weiter gefragt, wozu sie gut waren, denn ich wußte, daß man es mir früh genug erklären würde.
    Jetzt ergriff die Seelenfrau meine Hand, zog mich zu den Bäumen und zeigte auf etwas. Ich schaute nach oben, sah aber nichts. Sie war so aufgeregt, daß ich weitersuchte. Dann sah ich es - ein riesiges Spinnennetz. Es war ein dickes, glänzendes und komplexes Gebilde aus Hunderten gewebter Fäden. Auch in den anderen Bäumen entdeckte ich jetzt solche Spinnweben. Die Seelenfrau sagte etwas zu Ooota, der mich daraufhin anwies, ich solle mir ein Spinnennetz aussuchen. Ich wußte nicht, worauf ich bei der Auswahl achten mußte, aber ich hatte gelernt, daß man bei den Aborigines seine Entscheidung intuitiv trifft. Also zeigte ich einfach auf eines der Netze.
    Als nächstes nahm die Seelenfrau ein Aromaöl aus ihrem Taillenbeutel, mit dem sie den tamburinartigen Gegenstand, den sie am Vorabend angefertigt hatte, einrieb. Sie entfernte alle Blätter hinter dem Spinnennetz, auf das sie jetzt ihre Aufmerksamkeit richtete.
    Dann hielt sie die eingeölte Oberfläche des Tamburins hinter das Netz und machte eine schnelle Bewegung nach vorne - das Spinnennetz war perfekt auf der gerahmten Tierhaut eingefangen. Jetzt kamen auch die drei anderen und wählten sich ein Spinnennetz aus, und ich beobachtete, wie die Frauen die hauchdünnen Fäden auf den

Weitere Kostenlose Bücher